Roter Elefant

Sundays Vater wird sterben. Eine weitere Krebsbehandlung hat er abgelehnt. Auf seinen Wunsch hin ziehen Sunday, die Mutter und der jüngere Bruder Simon mit dem Vater in dessen Geburtsort Malagash an der Nordküste Nova Scotias. Dort wollen sie, unterstützt durch die Großmutter, liebevoll voneinander Abschied nehmen. Bei den täglichen Besuchen im Krankenhaus erstellt Sunday Tonaufnahmen der Gespräche. Zunehmend wird ihr Bedürfnis größer, jedes Wort, jeden Witz und jeden Seufzer des Sterbenden – auch nicht für ihre Ohren Bestimmtes – mitzuschneiden. Da die Mutter einst Sunday das Schreiben von Computerprogrammen lehrte, ist die Heranwachsende in der Lage, auf Basis der Dateien ein digitales Virus zu programmieren. Dieses soll sich nach dem Tod des geliebten Vaters verbreiten und so seine Stimme „auf den Festplatten von Fremden leben“ lassen. In einem licht- und luftarmen Kleiderschrank vor drei Bildschirmen kauernd, hofft Sunday, ihrer Ohnmacht die Berechenbarkeit der Codes entgegensetzen zu können. Erst als Simon überraschend die Nähe der Schwester sucht, wagt sich Sunday aus dem selbst erschaffenen Schutzraum heraus und beginnt, ihre Strategie zu hinterfragen.

Der Tod eines geliebten Menschen ist ein häufiges Sujet in der Jugendliteratur. Überzeugen kann die vorliegende Geschichte, nominiert für den DJLP 2022, Lesende ab 14 durch den genauen, fast sezierenden Blick, mit dem Ich-Erzählerin Sunday ihre Beobachtungen und Gefühle der letzten Lebenstage mit dem Vater beschreibt. In knappen Sätzen und kurzen Kapiteln findet Comeau eine Sprache (von Tobias Reußwig kongenial übersetzt), die fernab gängiger Klischees von Schmerz und Wut angesichts menschlicher Sterblichkeit erzählt: „Ich kann meinen Vater dort draußen auf dem Feld sehen, gelassen und ruhig. Ich bin diejenige, die noch um sich schlägt. Ich bin diejenige, die will, dass er ewig lebt.“ Auch die anderen Figuren entfalten Glaubwürdigkeit und Tiefe, nicht zuletzt durch ihren originellen (Galgen-) Humor. Allen voran der sterbende Vater. So lautet ein von Sunday aufgezeichneter Satz: „Um ehrlich zu sein, fühle ich mich irgendwie dumm, diese ganzen Salate gegessen zu haben.“

Die Titel von Sundays Audiodateien könnten Jugendliche neugierig auf den Text machen, ergänzt durch ein Gespräch über (Nicht-)Vergänglichkeit im digitalen Raum. Wer kümmert sich eigentlich um den digitalen Nachlass eines Menschen? Wie verändert sich Erinnerung durch die wachsende Menge digitaler Lebensspuren?

(Der Rote Elefant 40, 2022)