Die blauen Flügel
Aus dem Flämischen von Eva Schweikhart
217 Seiten
ab 10 Jahren
€ 17,00

Mit Hingabe folgt der 11-jährige Josh dem Wunsch der Mutter, dem großen Bruder ein „Schutzengel“ zu sein, denn der 16-jährige Jadran denkt, fühlt und handelt wie ein Kleinkind. Die Gefühlsausbrüche des „Riesen“ dominieren das Familienleben, wobei der feinsinnige Josh oft zu kurz kommt. Seit Murad, der Freund der Mutter, mit Tochter Yasmin bei ihnen lebt, teilen Josh und Jadran in der Hochhauswohnung sogar ein Bett. In den Herbstferien findet Jadran einen verwundeten Kranich. Natürlich darf „Riese“ den Vogel auf dem Balkon pflegen. Beim Versuch, dem Tier mittels der „blauen Flügel“ vom Engelskostüm der Mutter das Fliegen beizubringen, stößt Jadran den Bruder aus großer Höhe hinab, was für Josh nur ein Gipsbein zur Folge hat, aber Jadran droht eine  Heimeinweisung. Um diese abzuwenden und gleichzeitig Kranich Tirie den Weg in den Süden zu weisen, fliehen die Brüder mit einem Traktor samt Joshs Rollstuhl.

Auf der Flucht hinterfragt Josh erstmals die Verhältnisse in der Familie. Das Sprechen über den Vater, der vor langer Zeit fortging, erweist sich als Schlüssel zur Auflösung der Bruder-Symbiose. Von Yasmin per Handy verständnisvoll „verfolgt“ und von Jadrans Betreuerin Mika unterstützt, wird Josh fähig, seinen ‚Auftrag’ an die Mutter zurückzugeben, wodurch diese ihre Hilflosigkeit überwindet. Am Ende ist „Heim“ keine Option mehr. Die Familie wird versuchen, zugewandt-kreativ miteinander umzugehen. „Reden ist wie sich häuten, hatte Mama einmal zu mir gesagt. Nur war unter meiner alten Haut noch keine neue gewachsen.“ Sätze wie diese vermitteln die Langwierigkeit eines Veränderungsprozesses und muten Lesenden ab 10 die durch Jadrans Besonderheit  entstehenden Familienkonflikte beherzt zu. Das Titelmotiv „Flügel“ durchzieht alle fünf Kapitel und ist gleichzeitig mit Verantwortung und Hilfe, aber auch Loslassenkönnen und Freiheit verbunden, was die Zukunft des Kranichs ebenso meint wie die der Familie.

Zu Recht wurde der niederländische Autor Jef Aerts für seine psychologisch differenzierte, zuweilen tragikomische und kunstvoll komponierte  Familiengeschichte preisgekrönt (Silberner Griffel). Dabei entwickelt die rasante Road Novel im 3. Kapitel mit ihrem Rollentausch einen ganz eigenen Sog, muss sich doch nun der „Große“ um den „Kleinen“ im Rollstuhl kümmern. Martijn van der Lindens eindringlich-poetische Aquarellzeichnungen in Blau– und Grautönen bereichern den Text um eine eigene Bildsprache. Im Rahmen einer Bucheinführung böten sie Gelegenheit, zunächst ohne Text in die Geschichte einzusteigen. In Kleingruppen könnte es mit „Flügel“-Textstellen weitergehen, um mehr zu erfahren.

(Der Rote Elefant 38, 2020)