Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen
Illustration: Emile Bravo
Aus dem Französischen von Kai Wilksen
120 Seiten
ab 8 Jahren
€ 17,90

Der 6-jährige Jean soll am ersten Schultag seine Eltern vorstellen. Aber er weiß nicht, wo Mama eigentlich steckt. Er und sein kleiner Bruder können sich kaum an sie erinnern. Das ältere Nachbarskind Michèle versucht, Jean zu trösten, indem sie im Namen von Jeans Mutter Postkarten aus aller Welt schreibt. Trotzdem wird Jean das Gefühl nicht los, dass alle mehr über Mama wissen als er. Was bedeutet es, wenn Oma sagt: „Eigentlich sind sie alt genug, um es zu erfahren …“? Doch auch auf Michèle ist kein Verlass. Anlässlich eines erbitterten Streits um die Existenz des Weihnachtsmannes offenbart Michèle den Betrug mit den Postkarten: „Deine Mutter ist tot!“

Die komplexe, vielschichtige graphic novel lebt von den Bildern, die oftmals sogar noch die Worte in den Sprechblasen ersetzen sowie von der Mimik der Personen. Form und Inhalt sind sehr genau aufeinander bezogen. Die tragische Annäherung an die Wahrheit  – der Tod der Mutter, über den nicht gesprochen werden kann – wird aus der Perspektive des 6-jährigen erzählt: der Text steht bildbegleitend in rechteckigen Flächen. Die Komplexität des kindlichen Erlebens jedoch wird durch ein Erzählen in Bildern noch einmal auf eine andere Ebene gehoben bzw. in ihr aufgehoben. In dieser Bildebene verbindet ein Kind Alltagserlebnisse, Ängste, Träume, reale und phantastische Welten unmittelbar miteinander. Diese für ein Kind typischen spontanen Gefühlswechsel finden ihre überzeugende Entsprechung in einer Bild- und Comic-Sprache, in der visuell geschaffenen Atmosphäre, für die ein Text viele Sätze bräuchte. Als sich z.B. Jean ein altes Ehepaar vorstellt, das kaum noch ausgeht, sieht der Betrachter zwei gebückt stehende Bären in einer dunklen Höhle. Jedes Kapitel ist überdies mit einer eigenen Hintergrundfarbe unterlegt. Die Farben sind bewusst gewählt und atmosphärisch vieldeutig. Der Besuch bei dem Ehepaar  z. B. ist in dunklem Oliv gehalten, alles wirkt düster, ja muffig. Ein zartrosa Kapitel erzählt von einem Schulpsychologen, der in Jeans Klasse mit den Kindern spricht.

Für die Arbeit mit Kindergruppen könnte man das Buch zu Themen wie „Streit“ oder „Einsamkeit“ heranziehen. Zu welchen Sprachimpulsen die Bilder inspirieren können, erfährt man natürlich, wenn man den Text aus den Bildern entfernt und die Kinder anhand der Bilder eigene Erzählertexte, Kommentare oder Dialoge schreiben lässt.

(Der Rote Elefant 27, 2009)