Jean-Claude Grumberg, dessen Großvater und Vater in Waggons der Konvois Nr. 45 und 49 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden, gelingt mit diesem Buch zweierlei: Er charakterisiert den Holocaust als nationalsozialistischen Völkermord an mehr als 6 Millionen jüdischer Menschen und er erzählt auf berührende Weise von der Rettung eines „den Öfen geweihten“ Kindes. Dafür verwebt er die Geschichte einer kinderlosen Holzfällersfrau mit der einer verzweifelten jüdischen Familie, die nach Auschwitz deportiert wird. Der unglückliche Vater eines Zwillingspärchens wickelt die kleine Tochter in einen gold- und silberfarben bestickten Gebetsschal und wirft sie durch die Luke des Güterzuges hinaus in den Schnee. Die Holzfällersfrau hält ‚das kleine Gut‘, das sie an den Gleisen findet, für ein Geschenk des Himmels. Sie zieht das Kind auf und trotzt allen Lebensbedrohungen, die sich aus Hungersnot und Kälte, aus dem Widerstand des eigenen Mannes und aus den Verfolgungsjagden der Henkersknechte entwickeln. Nach der Befreiung macht sich der Vater, den der Gedanke an das Überleben der Tochter am Leben gehalten hat, auf den Weg. Er folgt den Gleisen, durchwandert Dörfer und findet einen Marktstand, an dem Ziegenkäse feilgeboten wird. Dieser liegt auf einem Tisch, den ein gold- und silberfarbenes Tuch bedeckt.
Von Kapitel zu Kapitel wechseln Erzählorte und mit ihnen der Erzählton; von liebevoller Behütung in Wald und Hütte erzählt Grumberg in der Sprache der Märchen und denkt dadurch das dem Genre innewohnende „gute Ende“ mit. Die gezielte Menschenvernichtung im Güterwaggon und im Vernichtungslager Birkenau verdeutlicht er durch seinen Berichtston. Ins Erzählen mischt der Autor Wendungen wie „das werdet ihr zugeben“ oder „man sagt, aber, man sagt ja so viel.“ So führt er ein scheinbar beiläufiges Zwiegespräch mit den Leser*innen. Er bleibt an ihrer Seite, auch in Passagen, die Grausiges und Gewalttätiges schildern und stützt das Verstehen und Verarbeiten des Textes. Auch indem Grumberg eine Holzfällersfrau zu unserer Holzfällersfrau macht – auch das kleine Gut wird zu unserem kleinen Gut – appelliert er an Mitgefühl. Diese Rezeptionsstrategie begleitet die renommierte Künstlerin Ulrike Möltgen mit 20 ganzseitigen Schwarz-Weiß-Illustrationen und 21 Kapitel-Vignetten. Ihre mit Kohlestift, Buntstift und weißer Kreide gearbeiteten Bilder berühren auf stille Weise ebenso wie der Text. Das in Blau gestaltete, gold- und silberfarben gerahmte Einbandbild verleiht dem Buch die Anmutung einer Kostbarkeit.
Das Buch ist für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2021 in der Sparte Jugendbuch der Jugendjury nominiert. In der Jugendjury arbeiten „Die LesArtigen“ mit. Die vierzehn Berliner Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren begründen die Nominierung so: „1943: Ein Vater wirft seine neugeborene Tochter durch die Luke eines Güterzuges hinaus in den Wald und rettet sie so vor dem sicheren Tod im Vernichtungslager. Wie durch ein Wunder findet eine arme Holzfällersfrau das „kleine Gut“ (S. 29) an den Gleisen. Gegen alle Widrigkeiten zieht sie es als ihr eigenes Kind auf. In dieser beeindruckenden Geschichte zeigt sich die Gattung Märchen z. B. durch die Einteilung der Handlung in Gut und Böse, Liebe und Hass, Mitgefühl und Gleichgültigkeit. Mit wortgewaltiger poetischer Sprache beschreibt der Autor die damalige Lebenswelt: Not und Armut, schwere körperliche Arbeit und Angst vor Krieg und Verbrechen. Wir erleben hautnah Beweggründe, Empfindungen und Entwicklungen seiner Charaktere mit. Ebenso eindringlich, glaubhaft und berührend werden wir von der Kraft der Liebe überzeugt. Gleichzeitig sehen wir Menschen gewalttätige Verbrechen begehen. Dadurch erkennen wir, dass das Böse nichts Abstraktes ist und sind aufgefordert aufzupassen, damit so etwas wie die Shoah nie wieder geschehen kann. Die düster wirkenden Zeichnungen greifen die Stimmung des Geschehens auf.“ (www.jugendliteratur.org)
(Der Rote Elefant 39, 2021)