„Unsere Tischdecke. So sah sie einmal aus. Meine Mutter liebte sie, besonders die schöne Stickerei … Sie sagte, sie erinnere sie an meine Großmutter.“ Aber eines Tages lässt das Kind das Bügeleisen zu lange auf der Tischdecke stehen – die Form des Eisens brennt sich in den Stoff. Was nun? Zu beseitigen ist der Fleck nicht. Jemand anderem die Schuld geben? Oder die Wahrheit sagen? Und: Wie wird die Mutter reagieren?
Erneut fordert Iwona Chmielewska in „Ojemine!“ durch Aufbau eines spannungsvollen Text-Bild-Verhältnisses die Phantasie des Betrachters/Lesers meisterhaft heraus. Die rückblickende Erzählweise lässt das Vergangene durch Verwendung des Präsens gegenwärtig werden. Es geht um weit mehr als ein Missgeschick. Erzählt wird vom Miteinander in einer Familie über drei Generationen hinweg, von Angst, Verantwortung, Aufrichtigkeit, Verständnis und Verzeihen, Liebe. Den Konflikt des Kindes lotet Chmielewska aus, indem sie den durcheinanderwirbelnden Schreckgedanken assoziative Bilder gegenüberstellt, die Furcht- und Schuldgefühle verdeutlichen. Die Doppelseiten sind klar strukturiert: links ein knapper Text, rechts der Umriss des Brandflecks, der sich ständig „verwandelt“. Heißt es „Am liebsten würde ich mich verstecken …“, wird aus dem Abdruck des Bügeleisens ein Mäusegesicht. Das Kind selbst ist nie im Bild – nur die Tischdecke – und das Ergebnis des Malheurs.
Die Künstlerin reduziert auf wenige Farben: Das Papier ist durchgehend hellbeige, der Bügeleisenabdruck beigebraun. Die Tischdecke erhält ihre Form allein durch das Zeichnen der Stickereien mit blauem Buntstift. Die „Verwandlungen“ in Rakete, Eule, Kirche, Brüderchen … sind (wie der Text) ebenfalls blau. Im Moment der Konfliktlösung kommen das Grün und Rot des Garns hinzu, womit die Mutter einen Fisch auf die Decke stickt, auf die sie zuvor einen zweiten Abdruck gebrannt hat. Dass der Fisch auch ein Symbol für das Christentum ist, meint der Verlag dem Leser mitteilen zu müssen.
Iwona Chmielewskas vielschichtiges und poetisches Buch ist altersoffen. Es bietet großes Identifikationspotential und provoziert philosophische Fragen zum Verhalten jedes Einzelnen als Grundlage des Zusammenlebens in einer Gesellschaft. Es lässt innehalten und nachdenken über Werte und Wertvolles. „Ojemine!“ hebt sich vom Bilderbuchmainstream in seiner auffälligen Reduktion und sorgfältigen Gestaltung – bis hin zum Prägedruck des Bügeleisen-Abdrucks auf dem Cover – wohltuend ab. Schade, dass dies erst das dritte in Deutschland veröffentlichte Kunstwerk der zu Recht vielfach preisgekrönten polnischen Künstlerin ist.
(Der Rote Elefant 33, 2015)