Wer dächte bei diesem Bilderbuch nicht an das geflügelte Wort der Bremer Stadtmusikanten „Was Besseres als den Tod findest du überall.“ In diesem Sinne sind auch die anthropomorphisierten Wild- und Haustiere aus aller Welt unterwegs, bestückt mit Koffern, Hausrat und Decken. Offenbar konnten oder wollten sie nicht mehr dort leben, wo sie Zuhause waren. Aber schon auf dem Titelblatt tritt der Tod, reitend auf einem blauen Ibis, in die textlose Bildgeschichte ein, wobei der Ibis in einigen Kulturen eine Übergangsfigur zwischen Leben und Tod, Gegenwart und Zukunft darstellt. Als der Tod auf der ersten Doppelseite einen Koffer findet und ihn zwei Seiten später der Gruppe übergeben will, nimmt ihm niemand den Koffer ab …
Es ist ein anspruchsvolles Vorhaben, jüngeren Kindern die scheinbar unlösbare Problematik weltweiter Migration zu vermitteln. Der Peruanerin Watanabe geht es jedoch nicht um die Gründe, sondern um die Tatsache selbst. Ihre metaphorische, aus 16 Doppelseiten bestehende Stationenreise (marschieren, ausruhen, Meer überqueren, Ankunft am neuen Lebensort) findet in einer ornamental gestalteten Kunstwelt statt, wobei ihre Bildinhalte symbolisch besetzt bzw. mehrdeutig sind. Das betrifft sowohl Orte (Wald, Meer), manche Figuren (Tod, Ibis), die Farbgebung generell, als auch Farbveränderungen von Pflanzen in emotional stark besetzten Momenten, so beim Tod des Hasen nach dem Kentern des überfüllten Bootes. Bisher intensiv farbige Pflanzen spiegeln nun das Grau der Hasendecke als trauere die (Um)Welt mit. Ist der vollflächig schwarze Hintergrund auf allen Seiten Ausdruck einer traurigen Grundstimmung, untersetzt durch Körpersprache und relativ starre Mimik der Tiere, so zeigen sich in deren individueller, mit vielen Mustern farbig gestalteten Kleidung und z. T. in den Farben der Pflanzen auch durchgängig Hoffnungsmomente.
Ein politisch mutiges, ästhetisch ausdrucksstarkes und emotional wirkendes Buch, das schon bei jüngeren Kindern – insbesondere über die Tiere, die einander, egal welcher Tierart sie angehören, helfend beistehen – Interesse und Mitgefühl für ein Thema wecken kann, das intellektuell kaum von Erwachsenen zu erfassen ist.
Dabei bieten Leerstellen in der Bildfolge spannende Gesprächsanlässe: Warum nimmt z. B. niemand aus der Gruppe dem Tod den Koffer ab? Worüber könnten in der Mitte des Buches Tod und Eisbär sprechen? Warum erscheint der Eisbär hier unbekleidet? Und warum tauchen während dieses Gesprächs nur hier die gleichen roten Pflanzen auf wie am Ende des Buches?
Einzige Kritik: Die Änderung des Titels „Migranten“ in „Flucht“, eine signifikante Sinnverschiebung. Flucht meint einen Sachverhalt, Migranten aber sind Menschen und um diese und deren Schicksal ging es der Künstlerin. Sind „Migranten“ Kindern unbekannt oder nicht zumutbar? Wirkt „Flucht“ abenteuerlicher und eher verkaufsfördernd?
(Der Rote Elefant 39, 2021)