Rosie weiß, was sie will, von Anfang bis Ende. „Am Dienstag kletterte Rosie auf den Baum“ (1. Satz), „Am Montag stieg Rosie vom Baum und legte sich auf die Wiese. Und blieb“ (Schluss). Rosies Rigorosität irritiert deren Umfeld. Doch weder Verbote („Mädchen gehören nicht auf einen Baum!“) noch Gebote („Du solltest mit Puppen spielen“) oder Lockmittel („Du wirst Weihnachten verpassen“) irritieren Rosie. „Viele Kinder fanden das gut. Anderen war es egal“. Manche spielen mit ihr oder stellen Fragen, andere vergessen sie …

Das neue Bilderbuch der in Berlin lebenden französisch-deutschen Künstlerin überzeugt durch eine intelligente Text-Bild-Beziehung, die mittels Leerstellen Denken, Sehen und Urteilen gleichermaßen herausfordert. Wie lange Rosie auf der Wiese „blieb“, bleibt ebenso offen wie der Grund des Baumaufenthalts. Pins Ich-Erzählerin berichtet nur, was passiert. Damit ist die Neugier auf die autonome, willensstarke Heldin geweckt. Diese Neugier wird jedoch sofort mit Abwehrreaktionen ob der „unnormalen“ Aktion konfrontiert, sodass sich Leser- und Betrachter*innen dazu verhalten müssen, wobei gruppendynamische Prozesse und Sinneswandel in Text und Bild eine Rolle spielen. Doppelseitige, meist vollflächig gestaltete Aquarellillustrationen vermitteln dabei die sinnlichen Eindrücke von Rosies Welt-Sicht aus Baumperspektive und „erzählen“ zusätzliche Geschichten. Wie reagiert z. B. Rosies Vater und wie kommt das Buch auf den Baum? Inmitten ineinanderlaufender grün-gelb-hellbrauner Farb-Flecken-Flächen setzen Rosies Kopf (rote Wangen/Haare) und blaues Kleid Blick-Fang-Akzente. 

Auf weiß grundierten Doppelseiten illustriert Pin die Spannung zwischen Oben und Unten. „Oben“ sitzt Rosie viermal frontal auf einem baumlosen Ast, wobei Mimik, Haltung und Aktionen Glück spiegeln und Rosie nah an die Betrachter*innen rücken. Von „unten“ blicken Figuren nach „oben“ und müssten Rosies Glück eigentlich auch sehen, wirken aber nur ratlos. Wiederholt spart Pin Rosie im Bild aus, da diese bereits in den Köpfen der Betrachter*innen verankert ist. So auch wenn Rosies Freiheitssehnsucht mittels lichter Himmels-Doppelseiten samt Vogelzug symbolisiert wird und letztlich nur noch ein großer Vogel davonfliegt.

Als Einstieg könnte ein realer Kletterbaum oder eine „verkleidete“ Leiter dienen. Wer hinauf darf, klärt ein Abzählreim, angelehnt an den Einstiegssatz des Buches: Am-Diens-tag-klet-ter-te-ein-Kind-auf-ei-nen-Baumund- kam-nicht-wie-der-run-ter. Das-war- (es folgt der Name des jeweiligen Kindes). Das abgezählte Kind darf raufklettern. Die anderen suchen Argumente, das Kind zum Runterkommen zu bewegen … Gelingt es?

(Der Rote Elefant 38, 2020)