Cover: Hayley Long, Der nächstferne Ort
Der nächstferne Ort
Aus dem Englischen von Josefine Haubold
328 Seiten
ab 13 Jahren
€ 19,99

Der „nächstferne Ort“, englisch „The Nearest Faraway Place“, ist nicht nur der Titel eines Songs der Beach Boys, sondern hat in diesem Buch vor allem die Bedeutung eines imaginären Ortes, an den man sich flüchten kann oder der eine Erinnerung bewahrt: ein Ort an der Schwelle zwischen Leben und Tod. Alles beginnt mit einem Autounfall auf dem Highway an der Stadtgrenze von New York. Die Eltern sind sofort tot, der jüngere der beiden Söhne, Griff, gerade 13 geworden, überlebt, schwer traumatisiert. Sein zwei Jahre älterer Bruder Dylan versucht ihn wieder ins Leben zurückzuführen. Darüber vergeht ein Jahr. Dieses Jahr wird im Buch erzählt. Die Eltern führten bis zum Unfall ein unstetes Leben. Beide Engländer, unterrichteten sie als Englischlehrer im Ausland: in München, Shanghai, Barcelona und schließlich in New York. Also hatten auch die Kinder keine wirkliche Heimat, keinen Ort, dem sie sich zugehörig fühlten. Nach dem Unfall bietet zunächst die Schulleiterin ihrer Brooklyner Schule eine Unterkunft, dann ist es die kinderlose Familie der Tante in Wales. Aus Wales stammte auch die Mutter. Hier sei es gleich verraten – im Buch erfolgt die Auflösung erst im letzten Kapitel – Dylan ist bei dem Unfall auch gestorben. Aber er kann erst loslassen, als es dem jüngeren Bruder besser geht. Das ist nicht nur ein (mehr oder weniger) origineller Einfall der Autorin, sondern das Motiv wird durch ein vorangestelltes Einstein-Zitat über die „Relativität von Zeit“ auf eine psychologisch-philosophische Ebene gehoben. Welche Verbindung besteht zu Verstorbenen, wie lange bleiben Tote in der Erinnerung lebendig? Ist das Leben selbst nicht auch nur eine Kette von Erinnerungen und Hoffnungen?

Die Erzählweise der Autorin ist alles andere als gedankenschwer. Es gibt viele, sehr lebhafte und manchmal skurrile Situationen und Begegnungen, allerdings immer wieder unterbrochen von Reflexionen des Erzählers Dylan, der nicht umsonst so heißt. Gedichte von Dylan Thomas spielen eine Rolle und vor allem die Musik der 1960er/70er Jahre, die in der Geschichte sogar vorwiegend von Schallplatten ertönt. Eingriffe in den Satzspiegel, Groß- und Kleinbuchstaben signalisieren emphatische Ausrufe oder geflüsterte Geheimnisse, stellen eine direkte Verbindung zwischen Text und Leser*in her. Und den für Fremde unaussprechlichen walisischen Ort Aberystwyth gibt es wirklich. Die Autorin hat dort studiert, wie der Klappentext mitteilt.

(Der Rote Elefant 36, 2018)