Die 1797 verfasste Ballade „Der Taucher“ erzählt vom (aussichtslosen) Kampf des Menschen gegen die Naturgewalten, von Hochmut und Übermut. Einem König gefällt es, einen goldenen Becher ins tosende Meer zu werfen und ihn demjenigen zu versprechen, der ihn herausholt. Niemand traut sich, bis ein junger „Edelknecht“ allen Mut zusammennimmt und sich in den „Höllenraum“ stürzt, aus dem bislang noch niemand lebend wieder aufgetaucht ist. Doch zum Erstaunen aller gelingt dem namenlosen Taucher das Unglaubliche. Wieder an Land berichtet er: „Da unten aber ist’s fürchterlich,/ und der Mensch versuche die Götter nicht/ und begehre nimmer und nimmer zu schauen,/ was sie gnädig bedecken mit Nacht und Grauen.“ Doch diese Warnung will der König nicht hören: Erneut wirft er den Becher hinab, weil er wissen möchte, was „auf des Meeres tiefunterstem Grunde“ ist. Der damit verbundenen Chance, zum Ritter geschlagen zu werden und die Prinzessin zur Frau zu bekommen, kann der junge Mann trotz seiner Angst nicht widerstehen. Er springt abermals ins Meer – diesmal für immer. Soweit die Handlung.
Willi Glasauer setzt eingangs zwei winzige Figuren auf eine überdimensionale Felsenklippe, beide blicken in die Tiefe, weit unten schäumt das Meer. Dieses Entree kommentiert zum einen das Verhältnis Mensch-Natur auf eindrückliche Weise, eröffnet zum anderen aber auch einen möglichen erzählerischen Rahmen über den Text hinaus. Auf der nächsten (herangezoomten) Doppelseite könnten die beiden jungen Männer Teil des Königsgefolges sein, ihre Kleidung mutet jedoch moderner an. Ist einer von ihnen der Erzähler der nun folgenden Ballade? Erinnern sich beide daran und geben einander nur die Stichworte? Oder ist es genau andersherum? Ist die Klippe der assoziative Auslöser einer Erinnerung an die Ballade vom Taucher, welche nun rekapituliert wird? Wie auch immer: allein diese erste textlose Seite ist ein wunderbar offener Einstieg, der dann mitten ins dramatische Geschehen führen kann. Im Folgenden fängt Glasauer in seinen dezent farbigen Federzeichnungen sowohl die schaurige Unterwasserwelt mit ihren scharf bezahnten, aber auch vermenschlichten, Seeungeheuern als auch die zwischen Angst und Ungläubigkeit schwankende Stimmung an Land ein. Die Grundfarbe Blau variiert in den verschiedensten Tönen. Besonders eindrucksvoll ist ihm die Prinzessin gelungen, die den Vater noch zurückzuhalten versuchte. Am Ende ist sie die Einzige, die den Tod des Jünglings wirklich betrauert – die anderen ziehen teilnahmslos von dannen, als sei alles nur ein Spiel gewesen …
Interessant wäre es, mit Jugendlichen den Zeitsprung zu wagen und heutige, vergleichbar gefährliche Mutproben zu besprechen und vielleicht in einer modernen Balladenform, z.B. dem Rap, zu gestalten. Hilfreich könnten dabei Erfahrungen und Beispiele des Rappers Doppel-U sein, der seit Jahren Rap-workshops mit Jugendlichen zu klassischen Texten durchführt. Bibliographische Angaben: Goethe und Schiller – Ein interaktives Hörbuch (Schroedel-Verlag 2006, mit Audio-CD, € 18,95)
(Der Rote Elefant 27, 2009)