Auch wer Grimms Geißleinmärchen nicht kennt, wird „Lob des Ungehorsams“ lieben. Um den Genuss vollkommen zu machen, sollte jeder jedoch vor der individuellen Beschäftigung oder einer Veranstaltung das Ausgangsmärchen rekapitulieren. Fühmann verstärkt dessen antiautoritäre Tendenz und fokussiert auf den Gegensatz „Bravsein kontra Ungehorsam“: Die Artigen frisst der Wolf, das Unartige überlebt. Lakonisch-augenzwinkernd kommentiert der überschauende Erzähler am Ende: „Da war Mutter Geiß aber froh“.
Grimms Märchen sind seit 200 Jahren ein reizvolles Angebot zur Interpretation durch Bildkünstler. Den Ausgangstext im Kopf, stellte Fühmanns Kurzadaption für Kristina Andres ebenfalls eine lustvolle Herausforderung dar, die sie auf 11 Doppelseiten intelligent-warm-herzig meistert. Dabei nutzt sie Fühmanns Pro-und Kontra-Idee auf ganz eigene Weise. Farbintensive Familien-Szenen mit vielen Figurenaktionen werden kontrastiert mit Großaufnahmen, Farbreduktion und Freiflächen. Zum einen spielen und malen artige Jungen- und Mädchen-Geißlein, helfen Mutti und gucken im Rudel fern, während der unfolgsame Einzelgänger, ein Werkzeugfan, der Standuhr mit Schraubendreher entschlossen zu Leibe rückt. So weiß er, dass sie „hohl“ ist. Bedauert dagegen die Geiß, dass die Uhr „verdorben“ ist, trennt traurige Mutter und schuldbewussten Sohn eine weiße Leere; umschlingt sie später tränenglücklich am rechten Bildrand ihr einziges noch lebendes Kind, ist neben beiden viel gelb-braun-getönter Freiraum. Wie Fühmann arbeitet auch Andres mit Leerstellen. Nicht illustriert sind die Fress-Szene und das Bauchaufschneiden.
Hierfür reichen ihr Bildsignale: Der Unartige übergibt Mutter Geiß die Schere (letzte Doppelseite), der (relativ kleine) Wolf liegt mit roten Bauchnähten bereits außerhalb der Handlung unter dem Impressum. Trotzdem sind wölfische Bedrohung und Fressgier keineswegs ausgespart … Wer mehr über diese interessante Künstlerin und ihre Arbeitsweise zu tuschen, radieren, aquarellieren und stempeln erfahren will: www. kristinaandres.com.
Der 1962 geschriebene Text des 1984 verstorbenen DDR-Autors preist gedankliche und tatsächliche Grenzüberschreitungen (1961 war der Mauerbau!) und wertet sie als existentiell zur Entwicklung des eigenen Ichs. Zum Hinterfragen und Weiterdenken von Ge- und Verboten ist dieses Bilderbuch bestens geeignet. Eine hintergründige Frage könnte lauten: Warum ist auf einem frühen Wolfsbild bereits eine rote Naht zu sehen?
(Der Rote Elefant 32, 2014)