Roter Elefant

„Es hatte eine Zeit gegeben, in der die Mitglieder der Familie Nelson Thomas noch um die gleiche Sonne gekreist waren …“ Mittlerweile kreisen Mr. & Mrs. Nelson Thomas und ihre drei Kinder nur um sich selbst. Während sich die Challenger-Besatzung im Januar 1986 auf den Start ins Weltall vorbereitet, bereiten sich die Nelson-Geschwister in einem chaotischen Zuhause mit streitenden Eltern auf ihren Start ins Erwachsenenleben vor, wobei alle drei aus der Bahn geworfen scheinen. Sitzenbleiber Cash geht mit den Zwillingsgeschwistern in die gleiche Klasse und fühlt sich als Versager. Scheinbar gibt es nichts, worin er gut ist. Bird, laut Freundin „eine von den Schlausten der ganzen Schule“, will erste Shuttle-Kommandantin werden und setzt eher auf die Zuverlässigkeit von Maschinen als auf Menschen. Fitch verbringt seine Zeit am liebsten in der Spielhalle, wo er mit „Major Havoc“ im Kampf gegen das böse Vaxxianische Reich die Welt retten kann. Im richtigen Leben zerstört Fitch mit seinem aufbrausenden Temperament jedoch mehr als er rettet.

Erin Entrada Kelly („Vier Wünsche an das Universum“, DJLP 2019; „Charlotte und Ben“, RE 38) erzählt in ihrer Familiengeschichte von der Suche dreier Jugendlicher, ihren Weg ins Leben zu finden. Dabei setzt sie deren Selbstzweifel und innere Kämpfe ins Verhältnis zur Unendlichkeit des Alls, wobei der Absturz der Challenger als Gleichnis fungiert, erscheinen doch auch Wegsuche und Selbstfindung des Menschen wie eine Art riskanter Start ins Unbekannte. Für die Figuren bedeutet das, trotz desolater Startbedingungen kleine Schritte an Veränderungen zu wagen: „Wusstet ihr, dass sich ein ganzer Strand verändern kann, wenn auch nur ein einziges Sandkorn fehlt? Nur ein kleines Sandkorn?“ Trotz Challenger-Motiv bestimmt den Text eine psychologische Spannung, resultierend aus dem Wechsel kurzer Cash-, Bird- und Fitch-Kapitel. Dabei kombiniert Kelly die personale Erzählweise mit den jeweiligen inneren Stimmen, wobei die Bird-Kapitel in Anzahl und Länge dominieren. Ergänzende technische Zeichnungen, offenbar aus Birds Feder, bereichern den Text und schaffen zu Bird eine besondere Nähe. Dass die Geschwister am Ende zusammenfinden, zeigt sich auch formal. Die letzte Kapitelüberschrift vereint alle drei Namen: Keiner muss seinen Weg alleine „wie Major Havoc im Labyrinth“ finden.

Die Selbstfindung ihrer Figuren verbindet Kelly gekonnt mit US-amerikanischer Zeitgeschichte, gekennzeichnet u. a. durch intermediale und popkulturelle Referenzen. Dabei schlagen die erzählten Schuldebatten einen thematischen Bogen ins Heute, der beim Umgang mit dem Buch zu nutzen wäre. Welche Gründe haben Menschen, überhaupt ins All zu fliegen? Denken sie dabei an Ausweichmöglichkeiten bei Überbevölkerung oder Ausgleiche bei Rohstoffmangel? Und wie aktuell sind Fragen über den Kalten Krieg?

(Der Rote Elefant 40, 2022)