Im tiefen finsteren Wald
Illustration: Delphine Bournay
Aus dem Französischen von Alexander Potyka
32 Seiten
ab 3 Jahren
€ 17,00

Weiß leuchtende Raubtieraugen in blauem Wald auf dem Cover lassen eine Grusel- statt einer Gute-Nacht-Geschichte vermuten, zumal auf den ersten Seiten weiße fletschende Zähne dazu kommen. Der Text entspricht dem Bildeinstieg: „Im tiefen finsteren Wald leuchten Augen auf … klappern Zähne aufeinander … zerreißt ein Gebrüll die Stille der Nacht.“ Der Schauereffekt verschwindet jedoch sofort, als eine empörte Wolfsmama auftaucht. Augen und Zähne gehören zu neun Wolfskindern, die von ihr zu Bett gebracht wurden und schlafen sollen, was sie jedoch verweigern. Warum das so ist, erklärt ein Wolfskind – das älteste, mutigste? – stellvertretend, wobei die Geschwister es als bekräftigender Bild-Backgroundchor lautstark unterstützen. Zwischen Mutter und Kindern entspinnt sich ein Streit um fehlenden Gute-Nacht-Kuss, nicht erzählte Geschichte bzw. vermisstes Schlaflied. Am Ende bekommen die Wolfskinder ihr Lied, die Augen fallen zu und verschwinden von den Buchseiten. Mama Wolf kann sich davonschleichen, aber …

Bewusst spielt Delphine Bournay am Beispiel vermenschlichter Wolfskinder anfangs mit dem Motiv des Gruselns, um dann kleinen und großen Menschen vertraute Einschlafverzögerungen und Verhandlungstaktiken vergnüglich nahe zu bringen. Sichtbar werden die zwei verschiedenen Standpunkte in der gegenläufigen Gestaltung der Doppelseiten, wobei Bournay mit wenigen Farben (Blau, Schwarz, Gelb und etwas Rot für den Himmel) viel Wirkung erzielt. Links agieren Mutter und Kind als farbreduzierte, relativ schmale Figuren auf viel Weiß, nur in Gestik und Mimik comicartig emotional überzeichnet; dagegen bildet der dunkle Nadelwald mit den kreideweißen Wolfsfratzen eine massive Farbfläche. In diese Bildsprache fügt sich die Textgestaltung, korrespondierend mit dem Wolfskinder-Sieg, genau ein, erscheinen doch Eingangstext und Sprechblasen-Dialoge in handgeletterter, kindlich anmutender Druckschrift. Inhaltlich vertiefen die kurzen Sätze und die rhythmischen Wiederholungen das Textverständnis, animieren zum Nachsprechen und verstärken die Identifikationsmöglichkeiten. Das gilt für Vorlese- und Betrachtungssituationen insbesondere abends vor dem Schlafen, wobei sich auch vorlesende Personen wiedererkennen dürften.

Die im Buch angewandten Verzögerungstaktiken können durch die zuhörenden Kinder sicher um weitere ergänzt werden! Und: Was passiert wohl nach dem Cliffhanger am Ende der Geschichte?