Cover: Davide Calì, Mein Vater der Pirat

Der Blick auf das offene Meer, den Illustrator Maurizio Quarello auf dem Vorsatz dem Betrachter gönnt, suggeriert bereits das Hauptmotiv des Textes von Davide Calì: Sehnsucht. Personifiziert ist diese Sehnsucht in der Figur des Vaters des Ich-Erzählers, der sich rückblickend daran erinnert, wie der Vater ein Mal im Jahr von abenteuerlichen Reisen auf hoher See und aus fernen exotischen Ländern nach Hause kam und von seiner Piratenmannschaft berichtete. Jedes Mal meinte der Junge aufgrund der phantastischen Erzählungen die salzige Meeresluft und den Pulverdampf riechen zu können und war von den Biographien der seltsam schrägen Piraten fasziniert. Doch dann kehrt der Vater nicht wie gewohnt zurück und die Mutter erhält einen Brief. Mutter und Sohn fahren zum Vater – doch nicht ans Meer, sondern nach Belgien. Dort bricht für den Jungen eine Welt zusammen und ihm wird klar, dass er kein „kleines Kind“ mehr ist. Mit der Wahrheit über den Vater erhellen sich viele kleine Details, die Quarello in seinen Buntstiftillustrationen versteckt hat: ein augenzwinkernder Totenschädel, merkwürdige Lampen, seltsame Leitungen mit Metallhaken. Die „Piraten“ heben völlig andere „Schätze“ als gedacht. Farblich ist die Gestaltung der jeweiligen Wahrnehmung des Protagonisten angepasst: Erzählte Abenteuer sind in fast übertrieben warmen kräftigen Farben gehalten, Unglück und Erkenntnis der traurigen Wahrheit in grau-blauen Tönen, Annäherung und zunehmendes Verstehen des nun jugendlichen Erzählers wirken realitätsnah.

Aber welche Intention trieb den Vater, etwas zu erzählen, was von der Realität weit entfernt war? War es die Sehnsucht nach genau diesem Leben? War es die Sehnsucht nach Anerkennung durch den Sohn? Wollte er diesen vor der traurig-tristen Lebenswelt schützen und ihm so lange wie möglich eine schillernde Kindheit erhalten? 

Erst als Vater und Sohn zehn Jahre später gemeinsam nach Belgien zurückkehren, weil das „Schiff“ des Vater (mit Namen Hoffnung!) „abgewrackt“ wird, erkennt der Junge, dass er nicht belogen wurde, sondern der Vater die Wahrheit durch einen Perspektivwechsel nur ein wenig verändert hatte, um beider Leben etwas schöner zu gestalten.

Davide Calìs gut übersetzter Text bringt dem Leser diese berührende Geschichte auf eindrucksvolle Weise nah, wobei auf die typografischen Spielereien hätte verzichtet werden können. Dies schmälert jedoch nicht den bemerkenswerten Gesamteindruck des DJLP-nominierten Buches, das dazu anregt, über Lüge und Wahrheit zu diskutieren, aber auch darauf aufmerksam macht, was Familien auf sich nehmen, um in einer globalisierten Welt der „human resources“ zurecht zu kommen.

(Der Rote Elefant 33, 2015)

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