Schon die Titelgrafik auf dem Cover verheißt Furchtbares: Der Schattenriss eines Menschen vor feuerrotem Hintergrund. Selbst die Buchstaben sind von Flammen durchzuckt, der Raum verliert sich in tiefem Schwarz. Conrad Ferdinand Meyers Ballade erzählt in der Tat eine grausame Geschichte, wie sie nicht oft in ein Versmaß gebracht wurde. Ein Täter kehrt an den Ort des Verbrechens zurück, zunächst ohne es zu wissen. Doch dann kommt die Erinnerung. Hier war es, wo er im Auftrag des katholischen Königs eine hugenottische Adlige quälte und schließlich umbrachte, da sie den Aufenthaltsort ihres Mannes nicht preisgab. Die Nacht verbringt er in Furcht vor der Rache. Alpträume quälen ihn.
Bei Jens Thiele findet eine Art Verdopplung statt, indem nicht nur das Geschehen visualisiert, sondern das Ganze zudem in filmische „takes“ montiert wird. Eine Filmcrew will die alte Geschichte aus der Zeit der Hugenottenverfolgung möglichst dramatisch und düster ins Bild setzen. Dem Betrachter bleibt die doppelte Erzählebene stets gegenwärtig, da oft Umrisse einer Kamera, eines Scheinwerfers, manchmal auch nur ein Kabel oder eine Steckdose mit im Bild sind. Das Wort „Bild“ trifft es nicht genau, da die einzelnen Seiten, durchgängig auf schwarzem, hartem Papier gedruckt, durch die Montagetechnik des Illustrators ‒ Bildbegrenzung, Bildfragmente und -versatzstücke ‒ das Auge des Betrachters nie in einem „Bild“ ankommen lassen, sondern es in eine hektische Suche nach visuellen und narrativen Anschlüssen zwingen. Erst die Totale gegen Ende des Textes, welche die beiden Reiter in der Landschaft zeigt, lässt das Auge ein wenig ruhen ‒ und nimmt damit auch den atmosphärischen Wechsel in der Sprache des Gedichtes auf.
Thiele modernisiert die Figuren in Physiognomie, Attributen, Kleidung, nimmt aber gleichzeitig sparsam historisierende Elemente auf. Die Folterszene, welche vom Tod der Edelfrau erzählt, wird zu einem Vergewaltigungsszenario. Ihr Konterfei, das im Gedicht zwar erwähnt, hier aber als Schlussbild eine viel größere Dynamik erhält, zeigt ein Frauengesicht voll wilder Schönheit in einer Haltung herausfordernden Stolzes. So blickt kein Opfer, eher eine Siegerin. Biografische Notizen zu C. F. Meyer und J. Thiele beschließen den Band. Ein Kommentar zur historischen Einordnung des Geschehens fehlt dagegen. Im Deutschunterricht könnte das Buch ein Balladenprojekt einleiten, das sich mit politischen Ereignissen beschäftigt. Von Liliencrons „Pidder Lung“ und Heines „Sklavenschiff“ bis zu Brechts „Kinderkreuzzug“ bieten sich spannende Geschichten an, die sprachlich und gestalterisch bewältigt werden wollen ‒ und dann unvergesslich bleiben. Ein anderer Gesichtspunkt wäre eine Interpretation von Balladen als „mediale“ Präsentationsform des 19. Jahrhunderts, verglichen mit aktuellen filmischen Darstellungen historischer Ereignisse.
(Der Rote Elefant 31, 2013)