„Die einen sagen Jude, die anderen Blutsäufer, fast jeder nennt ihn: Trottel. Schiacher Hund, Rotzkerl, Milchgesicht. Das wären die phantasievolleren Gemeinheiten.“

Den „Versuch, einem Leben Gestalt zu geben“ nennt Duda die 30 kurzen Erzählungen um Außenseiter Sepp und siedelt sie in der Steiermark der 1950er Jahre an, wo er selbst als Kind zeitweise bei seiner Großmutter lebte. Sepp, von Geburt an krank, verträgt kein Sonnenlicht. Der hinderliche Säugling kommt zur ledigen „Tante“, die den Jungen aufzieht und versucht, ihn vor allem zu bewahren, was ihn peinigen könnte. Später und schwerer als Gleichaltrige lernt Sepp stehen und gehen, lesen und schreiben. Dorfklatsch und -tratsch bleiben vor Tantes Tür. So vertraut Sepp arglos jeder und jedem, wird groß und kräftig, hört, dass Tante nicht Mama ist. Das nimmt er übel, erprobt Gegenwehr, daheim und im Wirtshaus. Doch es hilft nichts, Sepp bleibt lebenslanger „Fluchtpunkt aller Niedertracht“, seiner bleichen Haut, der schorfigen Augen und des sonderbaren Habitus wegen. Als die Tante als „Engelmacherin“ ins Gefängnis muss, ruft Sepp nachts laut nach ihr. Dass der Junge „eine Gefahr“ ist, „stand schon vorher fest und wird nun vielberedt untermauert … Wichtiger ist die Frage nach der Lösung …“

Am Umgang eines ganzen Dorfes mit einem Außenseiter macht der Autor nachhaltig sichtbar, wie in einer Atmosphäre voll Einfältigkeit und Engstirnigkeit, Gleichmut und Gehässigkeit, Neugier und Niedertracht menschliches Miteinander verkommt. Dabei entfaltet der literarisch überzeugendeText seinen Sog durch Dudas Sprache, mit der er, auch in steirischer Mundart, nichts ausspart, was verstören oder schockieren könnte. Um dennoch Abstand zu all dem Grauen, das Sepp angetan wird, zu ermöglichen, nutzt Duda zwei Erzählerpositionen: ein Autor-Ich für Rahmen und Einschübe und einen auktorialen Erzähler, welcher die fiktiven Sepp-Episoden umkreist. So kann der Autor zwischen Beschreiben, Hinterfragen, Ahnen oder Kommentieren wechseln. Diese künstlerische Freiheit sowie der Stil des fragmentarischen Erzählens schaffen Raum für Deutungen: als Milieustudie über dörfliche Engstirnigkeit, aber auch als Paradigma für gesellschaftliche Ausgrenzung damals, heute, hier und überall.

Woher kommen Vorurteile, wie verfestigen sie sich und was könnte man ihnen entgegensetzen? Die aktuellen Debatten über Antisemitismus und Rassismus sind damit eng verknüpft. Somit verlangt „Milchgesicht“ selbst erfahrenen Leser*innen die Fähigkeit ab, einen postmodernen, artifiziell anmutenden Text mit historischem Wissen und eigenen Erfahrungen abzugleichen.

(Der Rote Elefant 38, 2020)