Christian Duda schaut in seinem Jugendbuch Baumschläfer dahin, wo es weh tut: Kindesmisshandlung, häusliche Gewalt, Jugendobdachlosigkeit, Alkoholismus, Sex mit Minderjährigen, Versagen des Sozialstaates. Basierend auf einer wahren Geschichte, die sich 2017 in Mönchengladbach-Rheindahlen ereignete, spürt der Autor in fiktiver Form dem Leben des 15-jährigen Marius nach. Im Buch auf den 24. Januar 2014 datiert, ermordet Marius’ Vater die Mutter mit 31 Messerstichen. Marius ist nicht nur Zeuge der blutigen Attacke, sondern wurde beim Versuch, die Mutter zu schützen, selbst schwer verletzt. Weder die Pädagog*innen im Jugendpflegeheim noch die Sozialarbeiter*innen können Marius helfen, das Trauma zu überwinden und wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Er strauchelt durch sein Leben, endet in der Obdachlosigkeit und erfriert Ende Januar/Anfang Februar 2016, (von sich selbst?) festgebunden im Geäst einer Eibe.

Unter der Überschrift „Aktenlage“ ist das Buch in 1) Anklage, 2) Urteil, 3) Vollzug und 4) Kommentare akribisch durchgegliedert. Gekonnt baut Duda in den auktorial verfassten Text Passagen aus wörtlicher Rede ein, erzählt sonst aber zu großen Teilen im Präsens, um die Faktenlage überschauend darzustellen. Unvermittelte Unterbrechungen erfolgen durch Marius’ Gedanken (in fetter Schrift gesetzt), die der Autor glaubhaft darstellt: viele Fragen, Reflexionen über sein und das Verhalten anderer, gefühlte Überlegenheit, Erinnerungen. Ist er erschöpft, so bleiben nur Satzfetzen: „Polizei Mama Rettung“ oder später: „Regale. Musik. Leer. Nein! Warm und leer.“ Neben der häufigen Verwendung von Wörtern wie „Scheiße!“ und „Arschloch“ bietet Duda auch poetische Sätze: „Langeweile ist die Herrscherin im grenzlosen Reich der Obdachlosigkeit.“ Die schnellen Perspektivwechsel erzeugen einen Sog, dem Erzählten zu folgen. Dabei bleibt man als Leser*in immer nah an der Hauptfigur und erlebt mit Marius auch durchaus humorvoll beschriebene, in der Sache aber tieftraurige Situationen, wie die Suche nach einem Karton, der groß genug ist, um als Schlafstätte zu dienen.

In Baumschläfer erzählt Duda ungeschönt über Grausamkeiten, die sich alltäglich bundesweit ereignen. Zeugnis davon legt unter anderem die Internetseite www.unschlagbar-ev.de ab, auf der unter „Memorial“ an Marc (alias Marius), aber auch an das Schicksal erschreckend vieler anderer Kinder erinnert wird, die von ihren Eltern zu Tode misshandelt wurden oder knapp überlebt haben.

Um sich Marius und seiner Geschichte zu nähern, könnte mit Jugendlichen zunächst überlegt werden, was für sie „Sicherheit“ bedeutet, um anschließend anhand eines schwarzen XXL-Hoodies zu diskutieren, inwieweit dieser einem Jugendlichen Sicherheit bieten kann.