Als die Segeljacht „Pandora“ (!) nördlich der Kanarischen Inseln in einen Sturm gerät, verpasst der 15-jährige Bill den Sprung aufs Rettungsfloß zu seinen sechs Kameraden. Panisch schleudert er eine Plastiktüte mit Dosen, Wasserflaschen, Notizbuch, Stift und Messer ins Beiboot, stürzt hinterher, durchtrennt das Seil der Winde und bevor die Jacht versinkt, rettet er sich ins tosende Meer. Drei Tage lang treibt Bill auf dem Meer, durchlebt Wut und Angst, stemmt sich gegen Erschöpfung und Mutlosigkeit und trotzt mit seinen Notizen der ausweglosen Situation. Dann sichtet er eine Tonne, aus der er das Berbermädchen Aya rettet. „Ich muss jetzt teilen. Aber: Selbst wenn sie am Ende bloß zwei Skelette finden statt eins, ist das etwas in diesem großen Garnichts.“ Ein Kräftemessen beider mit Wind und Wellen, Sonne und Seegang beginnt. Pantomime, Bildrätsel, Scharaden und Sprachunterricht nutzen beide für Verständigung, Verstehen und Vertrauen. Bill baut einen „Wassermacher“ und fängt Kondenswasser auf, Aya erzählt Geschichten aus „1001 Nacht“ und verwebt diese mit ihrer Fluchterfahrung. Bill braucht Ayas Erzählungen immer mehr. Und doch bleibt da ein Geheimnis. Wird sich dieses auf der Insel lösen, wo beide stranden? Oder sind sie nur von einer Katastrophe in die nächste geraten?
Chris Vick erzählt auf atemberaubende Weise vom Erwachsenwerden zweier Teenager in einer Ausnahmesituation, worin aktuelle Ereignisse rund um Flucht und Menschenhandel, aber auch menschheitsgeschichtliche Dimensionen anklingen. Dabei verwebt er die äußere Spannung des Romans, die aus dramatischen Episoden des Überlebenskampfes erwächst, mit einer inneren Spannung, resultierend aus den Gedanken und Gesprächen beider Jugendlicher über ihre unterschiedliche Herkunft und ihre Kulturen. Bills Briefe, Tagebuchnotizen, Listen über vergangene Erlebnisse und zukünftige Pläne sowie Ayas märchenhafte Erzählungen bereichern den stakkatoartigen Ich-Erzähler-Text, so dass Vick das Kunststück gelingt, Pathos und Kitsch zu vermeiden. Rezeptionspsychologisch klug lässt er Bill rückblickend berichten und stimmt damit von Beginn an auf dessen Überleben ein. Damit entlastet er die Lesenden und schafft Räume für die Wahrnehmung der immer wieder wechselnden Beobachtungen, Gedanken und Gefühlszustände des Jungen. Interessant wäre ein Vergleich von Geschichten aus „1001 Nacht“ mit denen, die Bill nach Ayas Erzählungen in sein Tagebuch notiert hat. Gibt es Unterschiede? Warum könnte der Autor dieses literarische Mittel gewählt haben?
(Der Rote Elefant 40, 2022)