Das Mädchen und der Wolf
Illustration: Chiara Carrer
Aus d. Italienischen v. Dorothea Löcker
32 Seiten
ab 5 Jahren
€ 14,90

Carrers „Rotkäppchen“-Adaption greift offensichtlich auf eine frühe Überlieferung vor Perrault, vor den Grimms und vor Tieck zurück. Carrer entscheidet sich bewusst gegen die weit verbreitete pädagogisch-moralische Variante. Ihre Grundlage stammt wahrscheinlich aus dem mittelalterlichen Frankreich. Deren Derbheit lässt einen Ursprung im bäuerlichen Milieu vermuten. Dem knappen,  stark dialogischen Text verpflichtet, verzichtet die Künstlerin auf illustrative Opulenz. Ihre Bilder sind auf das Wesentliche reduziert: gestaltet wird ein naives, selbstbewusstes Mädchens, das unerschrocken dem Bösen begegnet und so der Gefahr entgeht, verschlungen zu werden. Dieses Rotkäppchen lässt sich nicht an die Leine legen, sondern bindet sich ohne fremde Hilfe los und führt den Verführer hinters Licht.

Carrers Collagen sind genial. Einerseits offenbaren sie deren künstlerischen Entstehungsprozess selbst, andererseits entsprechen sie dem Überlieferungsweg des Märchens samt Verschlingungsmotiv durch Zeiten und Gesellschaften. Wieder und wieder wurde dem Erzählten mündlich und schriftlich Neues (hin)zugefügt und Unzeitgemäßes (weg)gelassen bzw. geglättet. Carrer zeichnet ihre Figuren mit dem Bleistift, schneidet Konturen aus, verstärkt sie, färbt sie ein, legt das Ganze schließlich auf und setzt es in eine Kulisse. Spitze Winkel stacheln in die Scherenschnitt-Waldlandschaft, schräge Linien führen in bedrohliche Räume voller Tiefe und hinaus in die helle Freiheit. Immer hat die Farbe Funktion: Rot gebietet Achtung, Schwarz schützt und warnt, Weiß signalisiert Selbstbestimmtheit und  Freiheit. Auch damit spielt Carrer. So ist der ausgetrickste rote Bösewicht am Ende (an)ge-schwärzt und steht vor der roten Haustür, die ihm verschlossen bleibt.

Da die Figur des Mädchens und die des Wolfs wie auswechselbar wirken, können sie als Impuls für die Imagination eigener, innerer Bilder genutzt werden. Die Kulisse, nachgestaltet auf einer langen Papierbahn, kann so mit den eigenen Vorstellungen der Kinder vom Rotkäppchen, dem Wolf und anderen Phantasiefiguren bevölkert werden. Die Aktion vor dem Betrachten des Buches wird genutzt, um später Unterschiede zwischen Bilderbuch und eigenen Bildern  zu entdecken und zu diskutieren.

(Der Rote Elefant 27, 2009)