„Tief im Urwald klagt voller Kummer eine Tigermutter um ihre Kinder. Jäger waren gekommen und hatten sie getötet. Sie konnte nichts dagegen tun.“ Seither reißt sie Menschen und zerstört deren Hütten. Der König holt sich Rat bei der alten Lao Lao, die aus Kieseln und Bambustäfelchen die Zukunft liest. Es gibt nur einen Weg den Hass des Tieres zu besänftigen, der König muss seinen Sohn opfern. Das Wunder geschieht und die Tigerin nimmt den kleinen Wen, der sich ihr furchtlos nähert, an Sohnesstatt an.

Wie zuvor in Han Gan und das Wunderpferd versteht es Chen Jianghong in seinen Geschichten und Bildern die ganz Weisheit Chinas aufzunehmen und den Betrachter in einen magischen Bann zu ziehen. Chen Jianghong ist ein Meister der Tierdarstellung. In der Art und Weise, wie die Tigerin in Szene gesetzt wird, wie ihre Mimik, ihre Körperhaltung wechselt, liegt die ganz Spannung der Geschichte. Einmal schauen wir direkt in ein wildes, zu allen Grausamkeiten bereites Gesicht mit aufgerissenem Maul, dann wieder folgen wir ihrem auf dem Prinzen zärtlich ruhenden Blick, bis wir sie sogar weinen sehen.

Chens Stil ist angesiedelt zwischen traditioneller chinesischer Malerei – Tusche auf Reispapier – und einem modernen Comic-Stil. So ist die Darstellung der Menschen wie z. B. der königlichen Soldaten aber auch die des Prinzen an japanische Mangas angelehnt. So gelingt die Darstellung großer Gefühle abseits von Kitsch und Klisché.

Zur ästhetischen Einstimmung erhalten die Kinder das chinesische Schriftzeichen für Tiger. Sie sind aufgefordert es genau zu betrachten. Jedes chinesische Schriftzeichen ist aus einem Bild entstanden, was es darstellt. Das ist schwer. Zwei Tipps helfen: 1. Es zeigt die Heldin der folgenden Geschichte und 2. es ist ein Tier des asiatischen Dschungels. Die Kinder äußern ihre Vermutungen.

(Der Rote Elefant 24, 2006)

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