„Meine Mutter meinte, ich solle aufhören, das Leben anderer Leute zu filmen, und lieber mein eigenes Leben führen, aber sie kapierte es nicht. Genau das war der Grund, warum ich es tat: Um mich in die Geschichten von anderen Leuten zu flüchten, damit ich nicht über mein eigenes Mistleben nachdenken musste.“ Maggies „Mistleben“ ist von der Abwesenheit der Minister-Mutter, der Trennung der Eltern und einem Milieu bestimmt, worin Drogendeals, Überfälle, Bosheiten gegenüber Schwächeren und Polizeiübergriffe alltäglich sind. Alles was Maggie erlebt, macht sie wütend und sprachlos. Mittels einer Digitalkamera, einem Geschenk des Vaters, versucht die 14-Jährige ihre Sicht auf die Dinge festzuhalten. Täglich läuft sie filmend durch ihr Wohngebiet im Nordwesten Londons, wo Arm und Reich, Macht und Ohnmacht aufeinanderprallen. Letztlich soll ein wettbewerbsreifer Film entstehen. Als Maggie den Angriff der berüchtigten Starfish-Gang um den kaltblütigen Shiv auf den schmächtigen Little Pea beobachtet, schiebt sich plötzlich ein Unbekannter ins Bild, der Shiv stoppt. Wenig später begegnen sich Maggi und Tokes, der erst seit kurzem im Viertel lebt. Sie beschließen, den Film gemeinsam fertigzustellen. Tokes übernimmt die Texte, Maggie die Bilder. Während der Dreharbeiten werden sie Zeugen einer lebensbedrohlichen Messerattacke gegen indische Ladenbesitzer. Filmbilder und Zeugenschaft lassen sie selbst zu Opfern werden: Der Angreifer erpresst Maggie und Tokes mit einer Morddrohung.
Brutons sozialkritischer Roman basiert auf Ereignissen aus dem Jahr 2011 im Londoner Stadtteil Croyden. Die Wut darüber, dass Polizisten einen Jugendlichen krankenhausreif schlugen, wurde zum Auslöser wachsender sozialer Spannungen und mündete schließlich in drei Tage voller Krawalle und Plünderungen. Die Autorin lässt ihre Ich-Erzählerin anhand des aufgenommenen Filmes die Geschehnisse des Vorjahres rekapitulieren. In 28 spannend gestalteten Szenen begleitet der Lesende die Protagonistin und wird mit ihr in den Strudel von Angst und Gewalt, Enttäuschung und Wut hineingezogen. Ästhetisch konsequent verknüpft die Autorin das Hobby ihrer Hauptfigur mit einer filmischen Erzählweise. So kann sie einerseits nahe an das Geschehen heranzoomen, andererseits aber auch Distanzen schaffen. Ihre Erzählerfigur bewegt sich zwischen detailgetreuer Erinnerung an äußeres Geschehen und innerer reflektierter Gedanken- und Gefühlswelt. So weitet die Autorin die private Darstellung des Alltags zu einem gesellschaftskritischen Bild dramatischer sozialer Auseinandersetzungen.
(Der Rote Elefant 35, 2017)