„Papa und seine Cruz“ wollen nur noch jedes zweite oder dritte Wochenende mit Bianca verbringen: Sie sei angeblich „schwer zu händeln“. Und Mama gibt diese Info ihrer „Süßen“ ohne zu widersprechen weiter. Dass Mama den jüngeren Alan mit seinem „wegoperierten halben Herzen“ lieber hat, weiß die 12-Jährige schon lange. Kein Kommentar! Billie, Star einer Daily-Soap, die Bianca nie verpasst, kommentiert: „Gäbe es ein Schweigeturnier, würde Bianca glatt gewinnen“. Und Mama ergänzt: Niemand könne so laut schweigen wie Bianca! Aber warum sollte Bianca über Mamas Einladung an Billie samt Sohn Jazz „jubeln“? Ihr gilt der Besuch nicht, aber wenn dem kranken Alan beim Spiel mit Jazz was passiert, ist sie „der Auslöser/die Schuld/das Problem.“

Den Leser*innen präsentiert Moeyaert seine Heldin an nur einem Nachmittag, was ihr Denken und Fühlen als momentan ausweist. Die erzählte Zeit ist vom Warten auf den Vater bestimmt, was emotionale Überreaktionen nachvollziehbar macht. Als Folie für Biancas Sehnsucht nach Gesehen-Werden, Nähe und einer „heilen“ Familie nutzt Moeyaert deren Lieblingssoap „Hier bei uns“(!). Deren Zuschauern wird sogar die Forderung erfüllt, eine unsympathische Figur aus der Serie zu nehmen. Papas „höchstens 14-jährige Cruz“ gehört ebenfalls eliminiert, findet Bianca. Und warum haben die reale Billie und deren Serien-Figur so gar nichts gemein? Letztlich muss sich Bianca ihrer Realität stellen, wozu auch ein anderes Verhalten gegenüber „Papa und seiner Cruz“ gehört. Bevor jedoch Bianca ihr beredtes Schweigen bricht, wünscht sich die Mutter von ihr überraschenderweise mehr „Nähe“…

Erneut realisiert der mehrfach preisgekrönte Autor pubertäre Ambivalenz mittels eines ausgefeilten Sprachporträts. Egozentrik und Sensibilität der vordergründig patzigen Heldin vermitteln sich zwischen Ich-Reflexionen, Beobachtetem, Gedachtem, aber nicht Gesagtem und spontanen Äußerungen: „,Happy Hour‘, rufe ich … Gleich wird es Komplimente hageln/Jubel steigt auf/das Feuerwerk knallt. … Mama klebt sich ein Lächeln ins Gesicht.“ Zum Einstieg in das Psychogramm einer Figur, die Identifikation und Distanz gleichermaßen herausfordert, eignen sich die „sprechenden“ Mädchenporträts auf dem Bucheinband. Auf dessen Vorderseite blickt ein Mädchen mit Sommersprossen den Betrachter*innen traurig-trotzig direkt in die Augen und erzwingt geradezu ein Nachdenken darüber, was hinter dieser Mädchenstirn vorgeht. Auf der Rückseite sind die Augen geschlossen? Worin unterscheiden
sich die Gesichtsausdrücke?

(Der Rote Elefant 38, 2020)