Cover: Barbara Schinko, Schneeflockensommer

Die 14-jährige (Pech-)Marie ist von Zuhause weggelaufen und findet Obdach bei einer als „Hexe“ verleumdeten Einsiedlerin nahe einem Bergdorf. Sie darf den Sommer über bei Berta bleiben, muss aber dafür im Haushalt helfen und Ziegen weiden. Im Dorf lernt Marie den 15-jährigen Gastwirtsohn Linus und die 11-jährige Arzttochter Flora kennen. Berta, Linus und Flora suchen zu erfahren, wovor Marie geflohen ist und welches Geheimnis sie verbirgt: Berta mit grober Fürsorglichkeit, Linus, der „Hans im Glück“, mit beharrlicher Treue und Flora, „Rapunzel“, mit intelligenter Neugier. Doch Marie schweigt …

Barbara Schinko erhielt für „Schneeflockensommer“ den Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis. Das in klarer, dichter Sprache geschriebene Debüt nutzt viele Märchenbezüge, um die Innenwelt der Protagonistin und die Beziehungen zu anderen Figuren auszuleuchten, so dass dieses Verfahren an psychoanalytische Methoden zur „Ich“-Findung durch Märchenanalogien erinnert. Die gewählte „Sie“-Perspektive schafft bewusst Leerstellen im Text, welche vom Leser eigene Deutungen fordern. Der Intertext „Märchen“ ist stets präsent. Schon der Erzählort strahlt eine magische Atmosphäre aus. Ein Wolf scheint umherzustreifen, es gibt einen Moorsee und einen Prangerstein. Bei Ausflügen in den Wald lesen Linus, Flora und Marie böhmische Märchen. Und um Maries Schweigen zu brechen, versuchen die drei einander in Märchenfiguren wiederzuerkennen. So gewinnen sie als Freunde füreinander und als Figuren für die Leser beziehungsreiche Konturen. Auch nähern sie sich einer Märchen-„Wahrheit“, die besagt, dass ein „Held“ sich nur handelnd bewährt. Was also tun, wenn im Dorf Gerüchte kursieren, die sich um Berta und Linus‘ Cousine Hanna ranken und das zeitlose Thema „Schuld“ betreffen? Ist Berta tatsächlich „schuld“ am Tod eines Pfarrers? Und wie kam es zur Schwangerschaft von Hanna, die daraufhin das Dorf verlassen musste? Gegen die moralische Enge im Dorf entwickeln Berta und Linus eine Haltung: Berta bleibt der Gemeinschaft fern, Linus setzt sich über Erwartungen hinweg. Auch Marie handelt. Am Ende des Sommers gibt sie ihre Identität preis und stellt sich ihrer traurigen Geschichte: Einerseits wurde an ihr Unrecht verübt, andererseits lud sie selbst Schuld auf sich. Indem sie handelt, steigt sie aus dem Erzählmuster des „Frau Holle“-Märchens aus und gestaltet die weitere Handlung selbstbestimmt: „… das Märchen war zu Ende. Nicht die Goldmarie, sondern Valerie sah Marie an. Marie spürte den kaum merklichen Händedruck ihrer Schwester, spürte den Boden unter ihren Füßen. Spürte, wie etwas Neues begann.“ Für eine Bucheinführung könnten Namen von Märchenfiguren und ausgewählte Textstellen zu den Buchfiguren einander zugeordnet werden. Wie viel „Wahrheit“ über eine Person steckt in diesen sprechenden Namen?

(Der Rote Elefant 34, 2016)