Die (literarische) Lust am Gruseln hat sich spätestens seit Anfang des 19. Jh. mit dem viktorianischen Schauerroman durchgesetzt. Das Hausbuch der Gespenster- und Gruselgeschichten vereint 23 Erzählungen, von der Spukgeschichte der Romantik, über die klassische Kriminalgeschichte bis hin zur modernen Science-Fiction-Story. Texte der Weltliteratur, wie Tschechows Schreckensnacht oder Kleists Bettelweib von Locarno, stehen so neben Erzählungen zeitgenössischer Autoren wie R. C. Stine oder Joan Aiken. Den Ausgangspunkt bildet das titelgebende Märchen der Brüder Grimm. Gemeinsam mit dem Protagonisten machen sich Leser und Zuhörer auf den Weg durch wilde „Schreckensnächte“, in denen sie „Schaurigen Gestalten“ begegnen, die so manches Mal „Aus dem Totenreich“ zu kommen scheinen. Nur wenige der Geschichten nehmen eine unerwartet komische Wendung, so dass der Leser nach dem Auftauchen aus dem letzten Kapitel der Anthologie sagen wird: „Ach, was gruselt mir, was gruselt mir! Ja, nun weiß ich, was Gruseln ist“.
Die skurrilen Illustrationen von Kat Menschik tragen zur Lust an der Angst und am Schaudern bei. Schon das Titelbild reißt den Betrachter mit in einen haarigen Unterwasserstrom, aus dem Hände, Knochen, grinsende Totenschädel, Katzenkrallen, Holzkreuze und vermummte Gestalten herausragen. Noch vor dem Aufschlagen des dunkelroten, halbleinen gebundenen Hausbuchs verheißen die Appetitmacher (zu denen auch eine blutrote Wassermelone gehört) nichts Gutes und stimmen auf eine andere (Lese-)Welt ein. Schwarze Tuschezeichnungen, die am Computer mit Farbe aufgefüllt wurden und an eine Mischung aus Comic und Pop-Art erinnern, greifen variierend einzelne Details und ganze Schlüsselszenen des Erzählten auf. So manches Mal versucht das Grauen – beispielsweise in der Gestalt eines verliebten Gespensts – den Leser auf seine Seite zu ziehen, wenn es mit einem wissenden Lächeln den Betrachter direkt in die Augen schaut und so eine ironische Distanz zur Geschichte schafft. Dem Hausbuch, das für jedes Alter etwas bietet, gelingt, was die Herausgeberin in ihrem Vorwort verspricht: Es nimmt einen mit auf eine lange Achterbahnfahrt, eine Mutprobe, die einen Looping nach dem anderen mit sich bringt. Gute Nerven behält man am besten, wenn man nicht allein im Wagen sitzt und das Bauchkribbeln teilen kann.
(Der Rote Elefant 24, 2006)