Cover: Antonia Kühn, Lichtung

„Vielleicht gibt es so etwas wie eine erste Erinnerung überhaupt.“ Mit diesem Satz beginnt eine ungewöhnliche Familiengeschichte, in deren Zentrum der 11-jährige Paul steht. Pauls erste Erinnerung ist ein Mobilé, das während eines Umzugs derart verknotet wurde, dass Pauls Mutter es zerschneiden und neu zusammensetzen musste. Doch eine Figur fehlt, wohnt seitdem im Wandschrank, beobachtet von dort aus das Geschehen und kommentiert es mitunter sogar. Dies erfährt der Leser/Betrachter *innen aus einem kurzen Prolog, der bereits alle wichtigen Figuren vorstellt und den Grundkonflikt innerhalb der Familie gleichnishaft andeutet. Nach dem Tod der Mutter vor fünf Jahren erscheint die „übrig gebliebene“ Familie wie ein aus dem Gleichgewicht geratenes Mobile. Nun besteht die Familie nur noch aus Paul, der erst 6 Jahre alt war, als die Mutter auf rätselhafte Weise ums Leben kam, und der seitdem versucht, seine Erinnerungen zu ordnen, um sich das Geschehene zu erklären, dem überforderten Vater, der im eigenen Trauer-Prozess feststeckt, und der pubertierenden Schwester, die sich einer zwielichtigen Jugendgang angeschlossen hat.

Antonia Kühn lässt die Beantwortung der zentralen Frage „Beging die Mutter Selbstmord oder nicht?“ offen – und genau darin liegt inhaltlich die große Stärke von „Lichtung“. Erzählt wird von einem familiären Trauerfall, der wie die meisten Trauerfälle am Ende ein Vakuum hinterlässt, das sich nicht durch irgendeine glückliche Fügung ausfüllen lässt. Der Verlust der Mutter bleibt schmerzhaft, auch wenn sich das Dunkel irgendwann „lichtet“. Letztlich finden Paul, der Vater und die Schwester wieder zueinander. Emotional nachvollziehbar wird die Komplexität des Trauerprozesses über Antonia Kühns eindrucksvolle Bildsprache. Von Hause aus Animations-Zeichnerin ist ihrem Buch-Debüt die filmische Gestaltungsweise deutlich anzumerken. Die Schwarz-Weiß-Bilder sind mit fantastischen Elementen und Träumen durchsetzt, welche düster-beklemmend wirken. Durch Zeitsprünge, zahlreiche Perspektivwechsel und eine ungewöhnliche Metaphorik, wie z. B. in einer Sequenz, wo Kinder in einem Gewächshaus „aufwachsen“, entfaltet sich für die Betrachter*innen eine mitunter fast bedrückend starke Sogwirkung, mitten hinein in diese Familie in Trauer. Thema und bildkünstlerische Umsetzung dieser ebenso schönen wie traurigen Graphic-Novel können nicht nur Jugendliche, sondern auch Erwachsene in ihren Bann ziehen.

(Der Rote Elefant 36, 2018)