Am Schluss sagt Kati: „Eigentlich ist ja gar nicht so viel passiert.“ Und Luki antwortet: „Doch, finde ich schon“. Und da genau liegt das Problem oder besser die Erkenntnis. Wichtig ist nicht, was sozusagen objektiv geschieht, sondern wie man es auffasst bzw. was es einem bedeutet. Für den achtjährigen Luki war die Begegnung mit dem sprechenden Waschbär etwas sehr Wichtiges. Eigentlich ist Luki ein zurückhaltender Außenseiter. Die Schule, in der er als Schlauberger gilt und deswegen gehänselt wird, findet er oft langweilig. Und das Leben mit der alleinerziehenden Mutter, die sich ständig Sorgen um ihn macht, verläuft nach festen Regeln, an die sich Luki zu halten hat. So bedeutet das Auftauchen von Waschbär Hieronymus und dessen geheime Unterbringung einen „wilden“ Regelbruch ohnegleichen. Hieronymus ist ebenfalls eine Art Außenseiter. Zum Missfallen seiner Familie verhält er sich in der Regel nicht „wild“, sondern sucht die Nähe von Menschen, um sie kennenzulernen und ihr Verhalten zu studieren. Die Begegnung der beiden bringt vieles durcheinander und lässt sie ihre Vorstellungen vom Leben im jeweiligen Umfeld überdenken. Irgendwann teilt Luki sein Geheimnis mit der selbstbewussten Kati und mit Paul, der darüber zum Freund wird. Aber ewig kann Hieronymus natürlich nicht unentdeckt bei Luki wohnen …
Die Autorin bindet ihre psychologisch und sprachlich überzeugende Geschichte eng an Lukis Weltsicht. Dabei führt sie ihren Helden sanft ironisch durch die Höhen und Tiefen seines Selbsterfahrungsprozesses. Denn sie weiß ja, dass Waschbären eigentlich nicht sprechen können, und sie weiß, dass Lesende das auch wissen. Die fantastische Konstruktion und die begrifflichen Doppeldeutigkeiten aus dem Mensch-Tier-Leben geben ihr jedoch Gelegenheit, wie nebenbei auf lesevergnügliche Weise zentrale menschliche Fragen zu berühren: Wer und wie bin ich eigentlich? Was ist das Richtige für mich? Ist das ein Widerspruch: Freiheit oder Wildheit? Fühlt es sich besser an, allein zu sein oder im Rudel zu leben? „Vielleicht wollte Mama auch mal wieder zu einem Rudel gehören und sich paaren, so wie die Waschbären?“ Denn Lukis Mutter bringt plötzlich einen Kollegen mit nach Hause, der sogar sympathisch ist und sich für die Pläne der Kinder in Bezug auf Hieronymus‘ Verbleib als hilfreich erweist. So sind alle am Ende ein Stück weitergekommen auf ihrem Weg, auch Hieronymus. Eigentlich ist ja gar nicht so viel passiert?
Als Einstieg könnte man Kinder fragen, was sie über Wildtiere in der Stadt wissen bzw. ob ihnen schon einmal eines begegnet ist.
(Der Rote Elefant 39, 2021)