Roter Elefant Rezension
Der Tag, an dem der Drache verschwand
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
32 Seiten
ab 4 Jahren
€ 16,00

„Drachen bringen Glück.“ Herr Lóng, geboren im Jahr des Drachen, schlief unter einer Drachendecke, aß von einem Drachentellerchen, badete in einer Drachenbadewanne, lutschte an einem Drachenschnuller und wollte fliegen wie ein Drache. Bald wusste er zu gehen, zu schlafen und zu singen wie ein Drache. „Durch meine Adern fließt Drachenblut“, war sich Herr Lóng sicher. Später baute er ein Haus, sein „geschupptes Paradies“, und erzählte den Nachbarskindern Drachengeschichten. Einer seiner schon in der Schule verfassten Drachenverse lautete: Geliebter Drache/ So hoch in blauen Lüften!/ Sehe ich dich einst? Da klopfte es eines Tages an Herrn Lóngs Tür …

Die niederländische Bilderbuchkünstlerin Annemarie von Haeringen problematisiert auf subtile Weise die Ambivalenz kulturell-tradierter Prägungen, die Halt und Orientierung, aber auch Verunsicherung und Fremdbestimmung bedeuten können. Ersteres vermittelt sich über die Besonderheiten ostasiatischer Kulturen wie traditionelle Kleidung, die Gedichtform des Haiku, die Papierfalttechnik Origami oder den Drachenkult, der in Ostasien eine große Rolle spielt. Noch heute werden statistisch gesehen die meisten Kinder in den Jahren des Drachens geboren. Deren Glück scheint vorprogrammiert, wie beim Protagonisten dieses Bilderbuches, einer Art Spezialist, der sich voller Glauben und Hingebung fast zwanghaft einer Sache widmet und sich mit dieser identifiziert. Der zweite Aspekt zeigt sich darin, dass sich für Herrn Lóng (chines. für Drache) das seit der Kindheit prophezeite Glück nicht recht einstellen will. Unbewusst, in seinen Träumen, wird er gar zum Drachentöter. 

Während die ausschließlich mit blauem Kugelschreiber gezeichneten Bilder den Blick auf Kindheit, Jugend und Erwachsensein lenken, worin Lóng meist allein agiert (Drachensteigenlassen, Papierfalten, Gärtnern), erzeugt der überschauend erzählte Text im Präteritum eine zeitliche (und damit) kritische Distanz. Am Ende macht Herr Lóng eine Erfahrung, die ihn sein bisheriges Leben und Sein infrage stellen lässt. Eine Identitätskrise deutet sich an, mit offenem Ausgang.

Bringen Drachen Glück? Anhand von Drachenabbildungen aus der europäischen und der asiatischen Kultur, darunter eine Buchillustration, könnte eingangs gesammelt werden, was Kinder über Drachen wissen. Dabei würde auch die Differenz zwischen europäischen und asiatischen Drachenmythen thematisiert. Und wie ergeht es Herrn Lóng? Warum schlägt er seinem Besucher die Tür vor der Nase zu?

(Der Rote Elefant 40, 2022)