Roter Elefant

Widerwillig räumt der 10-jährige Hanno sein Zimmer. Klassenkameradin Pien mit den „ultralangen“ Gliedern und fusseligen Zöpfen, die sich als polnische Prinzessin ausgibt, zieht wegen ihrer heilungsbedürftigen Mutter eine Zeitlang darin ein. Kees, aus dessen Werkstatt Hanno Material für „Eisentiere“ bezieht und wo er Kekse mit Sinnsprüchen nascht, rät dazu, „die Situation“ erst mal gründlich zu erforschen. Anfangs hält Hanno alle absonderlichen Eindrücke (Läuse, Unsportlichkeit, Tollpatschigkeit) auf seinem Diktiergerät fest. Später bemerkt er, dass Pien nachts heimlich dichtet und ihren unbekannten Vater für einen berühmten Dichter hält. Als sich per Zufall diese Annahme als Irrtum herausstellt und Pien auf das Diktiergerät stößt, ärgert Hanno sich nur noch über sich selbst.

In ihrem zweiten Kinderroman lässt Mieras zwei verschiedene Kinderwelten kollidieren und erzählt davon aus durchweg kindlicher Ich-Perspektive, psychologisch stimmig und mit vielen lebendigen Dialogen angereichert. Von klugen, einfühlsamen Erwachsenen (den Eltern, Kees) geleitet, der eigenen Neugier folgend und durch aufregende gemeinsame Erlebnisse getragen, gelingt es Hanno, Vorurteile abzubauen, Enttäuschungen zu verkraften, Verantwortung zu übernehmen und „Notfall“ Pien verständig in ihrem Sosein anzunehmen.

Besonders überzeugt die Einheit von Inhalt und Form: Witzige Vignetten auf dem Vorsatz und vor den Kapiteln visualisieren Hannos Basteltalent. Die mit Überschriften versehenen Kapitel „zählen“ die Tage ab „Pien“; nach dem 1. Wochenende mit ihr sind sie in Wochen strukturiert. Fast jedes Kapitel endet mit Versen in imitierter Handschrift, denen man Arbeitsspuren in Form gestrichener Wörter ansieht. Mit diesen Versversuchen führt die Autorin auf subtile Weise eine zweite Perspektive ein, denn dass die Texte von Pien stammen, können Leser*innen vermuten. Nach Abdruck von Piens kompletter ‚Arbeitsvorlage‘, ergänzt durch zwei Kurzporträts in einer Art Anhang, offenbart Mieras selbstreferentiell (ihre) literarische(n) Vorbilder: Verse der polnischen Dichterin Wisława Szymborska regten die 12-jährige Pina Maria van Putten zu ihrem ersten Lyrikband an. Dessen 22 Gedichte – die Titel entsprechen den Kapitelüberschriften – sind als Korrespondenz ebenfalls nachzulesen.

Gleichsam unter der Hand lädt das Buch zu eigenen kreativen Versuchen ein: entweder nach Piens Methode einzelne Zeilen eines vorliegenden Gedichts neu weiter zu dichten oder – wie beide Kinder – Sprüche zu erfinden und in Kekse einzubacken oder – a lá Hanno – selber mal eine Sattelmaus, Zahnradeule oder Kneifzangenameise zu bauen.

(Der Rote Elefant 40, 2022)