„Früher habe ich immer bedauert, dass ich überhaupt nicht zeichnen kann, aber jetzt bin ich überglücklich, dass ich wenigstens schreiben kann“, notiert Anne Frank am 5. April 1944. Das Zitat aus dem weltbekannten Tagebuch der 14-Jährigen, die nach zwei Jahre währendem Leben im Versteck eines Amsterdamer Hinterhauses der Vernichtung im Lager Bergen-Belsen nicht entkommt, nimmt sich wie ein Leitfaden für das Buch Füller-Kinder aus. In dieser einzigartigen Hommage an die schreibende Anne Frank sind 40 unbekannte Texte von ihr veröffentlicht, zu denen 46 international renommierte Künstlerinnen und Künstler Bilder schufen. Als im März 1944 ein niederländischer Minister aus dem Exil dazu aufruft, Briefe und Tagebücher aufzubewahren, die nach Kriegsende vom Leben in dieser grauenvollen Zeit künden, wird Anne sich daran beteiligen. Seite für Seite überarbeitet sie ihr Tagebuch thematisch und stilistisch und verfasst neue Texte. In diesem Prozess entstehen literarische Miniaturen – teils komische, teils nachdenkliche Erzählungen über das Leben im Hinterhaus. Anne beginnt sogar einen Roman über das Leben ihres Vaters. Die Leser können Annes Erinnerungen an die Schulzeit ebenso folgen wie ihren minutiösen Charakterisierungen der Mitbewohner. Sie lernen Annes Reflexionen über sich selbst, Familienmitglieder und Freunde kennen. Die mannigfachen Arten des Erzählens zeugen vom kreativem Schreibpotential der jungen Autorin: Mal spricht sie ihre Leser direkt an, mal kreiert sie ein erzählendes Ich, dann wieder begleitet ihr überschauender Erzähler abenteuerliche Weltentdeckungen, zum Beispiel eines Bärenjungen. Die Zahl märchenhaft-fantastischer Texte nimmt mit der Zeit zu. Anne wagt sich an ein Essay, in welchem sie die Bedeutung der Frage „Warum?“ für Heranwachsende auslotet. Sie philosophiert über Glück, Mensch und Natur und vor allem über ihr Verhältnis zum Schreiben. Kurze Tagebuch-Zitate ergänzen das Ganze.
Die aufwändige Gestaltung des Buches entspricht Annes Vorstellung vom Weg, Schriftstellerin zu werden. In ihren Illustrationen greifen 46 Bildkünstlerinnen und -künstler Annes Textmotive auf, vertiefen und interpretieren diese auf ihre je individuelle Weise. Mit wenigen Zeilen beschreiben sie, wie Annes Werk sie beeinflusst, geprägt und inspiriert hat. Und so gerät dieses sorgfältig konzipierte und ästhetisch überzeugende Buch auch zu einem Kompendium der Illustrationskunst, in dem Collagen neben Zeichnungen, Stempelbilder neben Aquarellen oder Linolschnitte neben Lithografien stehen. Vor allem jedoch ist dies ein Buch gegen Ausgrenzung, Antisemitismus und für ein menschliches Miteinander.
Ausgehend von Annes Beziehung zu ihrem Füller – „Er hat ein sehr langes und interessantes Füllerleben geführt, von dem ich hier kurz erzählen möchte“ – bietet sich das Vergleichen ausgewählter literarischer Texte mit Tagebucheinträgen gleichen Datums an. So kann Annes Art zu schreiben und zu bearbeiten einer genauen Betrachtung unterzogen werden.