Cover: Anne C. Voorhoeve, Wir 7 vom Reuterkiez

Zum ersten Mal nimmt die Autorin hervorragender historischer Jugendbücher unmittelbare Gegenwart in den Blick und schreibt für jüngere Leser. Und wohl zum ersten Mal seit „Emil und die Detektive“ und „Kai aus der Kiste“ begegnet man in ihrem Buch einer Clique Berliner Gören (inkl. einiger Erwachsener), die sprichwörtlich berlinerisch, nämlich schlagfertig, ideenreich und tatkräftig agiert.

Für Pia, 11-jährige frisch erzählende und klug reflektierende Protagonistin, und ihren wenig älteren Bruder Jonas haben die Eltern nach jahrelangem „Großen und Kleinen Brüllen“ eine moderne Lösung parat: Die Eltern ziehen aus, die Geschwister bleiben in der „Kinderwohnung“ und werden wöchentlich abwechselnd von je einem Elternteil betreut. Wichtigste Regel: kein Zutritt für neue Partner bzw. Familienmitglieder der Eltern! Vielleicht hätte das „Verfahren“ noch lange funktioniert, doch die Wohnung befindet sich in einem Altbau im Neuköllner Reuterkiez! Durch die Lautsprecher-Ansagen der „Spreeperle“ auf dem Landwehrkanal (Pia kann sie schon auswendig.) und die „Wir bleiben hier!“-Sprüche auf den Betttüchern vor etlichen Fenstern sind den Kindern die „erheblichen Veränderungen“ in ihrem Kiez längst geläufig. Nachdem „C.G. Weber Home Development“ von ihrem Haus Besitz ergriffen und es aufwändig saniert hat, was wiederum familiäre Turbulenzen ankurbelte, lassen sich Pia und Jonas (ausgerechnet) von dieser, aber immerhin zusammen mit der Mutter nebst Partner Fred, eine renovierungsbedürftige Wohnung in Haselhorst vermitteln.

Der Stoff des Buches ließe sich ausgesprochen satirisch bearbeiten (und hätte dies auch verdient). Für Kinder bereitet Voorhoeve ihn überaus freundlich, trocken-humorvoll und spannend auf. Geradezu einen Knaller bildet die Geschäftsidee des 7-köpfigen verschworenen Teams um Pia und Freundin Nesrin: „Neukölln für starke Nerven“. Die Touristenführungen anhand fingierter krimineller Aktionen (etwa ein Fahrraddiebstahl auf offener Straße oder eine „muslimische Beschneidung“ im Hinterzimmer eines türkischen Feinkostgeschäfts) fangen nicht bloß Lokalkolorit und sozial-multikulturelle Vielfalt ein; vielmehr nehmen sie Klischees, Vorurteile und Ängste gleichsam auf die Schippe. Allerdings bleiben die Touristen aus, als sich ein finanzstarker Unternehmer das Know-how aneignet …

In Berlin läge es auf der Hand, aus Textpassagen einen literarisch-soziologischen Stadtteilspaziergang zu konzipieren. Pars pro toto dürfte sich das Konzept auch auf andere Kieze und Städte übertragen lassen.

(Der Rote Elefant 35, 2017)