„Auf Ehrennormen beruhende Gewalt ist eine von vielen Erscheinungen in Patriarchaten, in denen es eine Kultur der Gewalt gegen Frauen und ethnische und sexuelle Minderheiten gibt“, so Sofia Nesrine Srour in einem Interview. Gemeinsam mit ihren in Norwegen lebenden Kolleginnen Amina Bile und Nancy Herz, alle drei muslimische Autorinnen, Feministinnen und Bloggerinnen, erhebt sie in „Schamlos“ ihre Stimme gegen jede soziale Kontrolle, welche die Selbstbestimmtheit von Menschen unterdrückt. Dabei verweisen die Anfang 20-Jährigen mit libanesischen Wurzeln auf die Komplexität der Probleme, wenn Normen eines auf Geschlechtergleichheit orientierten Landes mit denen patriarchal bestimmter Kulturen samt entsprechender Religion aufeinanderprallen. Häufig führt das zu einem Doppelleben und einer Doppelmoral, unter denen besonders junge Frauen leiden.

Titelbezogen zeigen die Autorinnen, dass z. B. Anweisungen wie sich eine „richtige“ Muslima zu verhalten habe, Scham erzeugt. Dazu gehören Sprüche wie „Lutsch keinen Lolli vor anderen Leuten“ oder „Gewalt in der Ehe? Hab Geduld, das geht vorbei. Du bist eine Frau, das musst du aushalten.“

Für ihr sensibles Anliegen bedienen sich die Autorinnen verschiedener Vermittlungsformen. Es gibt direkte Ansprachen an die „Schwestern“, die Autorinnen diskutieren miteinander, geben Geschichten muslimischer Frauen wieder, kontrastieren diese mit Mail-„Ratschlägen“ und vertiefen letzteres durch Interviews. Themen sind z. B. Vor- und Nachteile des Hidschab, was ein Kopftuch, aber auch den Ganzkörper-Schleier bezeichnen kann, oder zu frühes Verlieben bzw. Sex. Letzteres hat bis zur Ehe zu warten! Auch veranschaulichen Diagramme, wie z. B. Schamgefühl parallel zu den Erwartungen des jeweiligen kulturellen Umfeldes steigt oder fällt. Selbst das „aufgeklärte“ Norwegen kommt dabei nicht gut weg.

Dass sich das Buch vorrangig an Mädchen wendet, obwohl es alle lesen sollten, die eine freie Gesellschaft favorisieren, zeigt sich (leider!) an der Klischeefarbe Rosa innerhalb des sonst ansprechend-abwechslungsreichen Layouts. Dabei besticht besonders Esra Røises großartige Covergestaltung samt Spielanregung, welche Schammanipulation und Kampf dagegen visuell verdichtet: Ein Papierstreifen verdeckt, je nachdem, wie man ihn schiebt, stets einen Teil des abgebildeten Mädchengesichts. Ganz nach oben geschoben, zeigt sich der gehobene Mittelfinger der Abgebildeten. Als Einstieg böte sich das Cover-Schiebe-Spiel geradezu an, um in dieses wichtige Buch und sein politisches Plädoyer für Menschenrechte samt Botschaft „Weg mit der Scham!“ einzuführen.

(Der Rote Elefant 37, 2019)