Die 15-jährige Ich-Erzählerin Lilly weiß „mehr über Zahlen als über Menschen“. Sie besucht eine Hochbegabtenklasse in Tel Aviv, ist in den Mathe-Lehrer verliebt, trauert um die kürzlich verstorbene Großmutter und soll überdies akzeptieren, dass sich die Eltern (Mutter: bildende Künstlerin; Vater: Bäcker) trennen. In unerträglichen Familientherapie-Sitzungen löst sie lieber Denksportaufgaben. Da begegnet ihr ein Schaf, das bald getötet werden soll. Es folgt Lilly und klettert – von der Mutter unbemerkt – ins Familienauto. Wunderbarerweise beantwortet das Schaf Fragen mit Aufrichten des linken oder rechten Ohrs und meint so, dass Lilly etwas gegen die Trennung der Eltern tun könne. Natürlich muss das Schaf bleiben, aber wo? Nach einigen Fehlschlägen parkt Lilly das Schaf für Geld bei den Geschwistern Sohar und Rona. Anders als Lilly sind diese eher Randexistenzen und haben jede Menge eigener familiärer Probleme, was Lilly jedoch weiterhilft: „Nun verstand ich langsam, dass alle Eltern der Welt aus einem anderen Land stammen und ihre Kinder sich ihnen irgendwann nicht mehr zugehörig fühlen.“ Sohar wiederum wird von Lilly motiviert, den Tätowierer-Hilfsjob aufzugeben und sein künstlerisches Talent auszubauen, wozu auch ein Gerhard-Richter-Kunstband aus dem Bücherschrank von Lillys Mutter beiträgt.
Schauplatz des Buches ist eindeutig Israel, worauf Geographie, viele Begriffe (s. Glossar) und Details anspielen, z. B. „Schutzräume“ für jederzeit mögliche Angriffe. Die Erfahrungen jedoch, welche Lilly mit sich selbst und anderen macht, nur z. T. provoziert durch die Trennung der Eltern, entspricht einem allgemeinen jugendlichen Emanzipationsprozess. Dieser vermittelt sich auf intensive Weise über die Selbst- und Weltbetrachtung der eigenwilligen Protagonistin. Für deren komplexe Gefühls- und Gedankenwelt fand die Autorin eine schnörkellose Sprache, welche die kürzlich verstorbene Mirjam Pressler gekonnt ins Deutsche übertrug. Insbesondere Lillys Vermeidungsstrategien mittels Denksportaufgaben, die sich auch an die Leser*innen richten, bringen sie diesen sehr nahe und erzeugen eine durchgängige Erzählspannung. Darunter sind philosophische Reflexionen über das Sein, das Nichts, den Tod und die Unendlichkeit. So korrespondiert z. B. der Unendlichkeitsbegriff mit dem Erbstück der Großmutter, einer Halskette mit goldenem Möbiusband-Anhänger. Übrigens: Das Schaf, so metaphorisch es manchmal auch verstanden werden könnte, wird schließlich ganz realistisch einem Streichelzoo übergeben.
(Der Rote Elefant 37, 2019)