Augenblick mal
Was wir sehen, wenn wir sehen und warum
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers
128 Seiten
ab 10 Jahren
€ 14,95

40 000 Jahre alte Wandmalereien, der Goldene Schnitt, weinende Kinder in Afrika, wundervolle Werbe- und virtuelle Welten – nur wenige Schlagworte von vielen, die van Leeuwen in ihrem empfehlenswerten Sachbuch benennt, erklärt, in Frage und zur Diskussion stellt.

Einen „spielerischen Streifzug durch die Kulturgeschichte des Sehens“ wirbt der Verlag und trifft damit die Breite der locker zusammengestellten Beispiele unserer Wahrnehmungs- und Gestaltungsmögichkeiten. Dabei orientiert sich der Buchaufbau nicht an einer Chronologie der Kunst- oder Wissenschaftsgeschichte, sondern macht mitunter große Sprünge, z. T. etwas willkürlich. Das dadurch entstehende Tempo aber ist spannend und die Kapitel sind trotzdem in sich geschlossen. Der gewagte Sprung, von allem, was wir nicht sehen können, am Anfang, zu allem, was wir allein auf einem leeren Blatt sehen können im letzten der 13 Kapitel, gelingt. Jedes Kapitel könnte ein eigenes Buch füllen, doch die Autorin/Illustratorin hat nicht den Anspruch, wahrnehmungspsychologische oder physikalische Phänomene zu definieren und/oder vollends zu erläutern. Sie stellt eine möglichst große Bandbreite visueller Wahrnehmung und Wirkungsmechanismen vor, um Leser zu motivieren, das eine oder andere interessenbedingt zu vertiefen. Farbe, Perspektive, Fluchtpunkt oder Goldener Schnitt werden dabei durchaus intensiv behandelt, andere Bereiche wie Optische Täuschung, Semiotik oder Bild-Zeit-Beziehung nur angerissen – überzeugende Bildbeispiele machen jedoch Lust auf mehr.

Besonders zu loben ist der kritische Umgang mit den Medien. Van Leeuwen zeigt, wie leicht man z. B. durch eine Bildunterschrift den Betrachter beeinflussen kann, wie manipulativ die Werbung mit Wünschen und Träumen von Menschen umgeht, wie sich Schönheitsideale im Laufe der Zeit verändern. Anekdoten und Informationen überraschen auch erfahrenere Leser, viele Tipps verweisen auf originelle Ausdrucksmöglichkeiten, die jedem zur Verfügung stehen: wenige Striche können Gefühle oder Bewegung verdeutlichen, die gesamte Kunstgeschichte kann Inspirationsquelle sein.

In unserer bilderüberfluteten Welt kann dieses Buch als Kompass dienen. Viele Beispiele regen an, mit Wahrnehmung und Wirkung zu spielen, auch als ganz praktischer Einstieg ins Buch: Jedes Kind erhält das gleiche Foto mit dem Auftrag, eine Bildunterschrift zu fomulieren. Unter die Vorschläge wird die originale Bildunterschrift gemischt und gemeinsam überlegt, welche wohl die „richtige“ ist. Erstaunlich, wie viele Varianten passen würden und wie jede einzelne die Situation auf dem Foto verändert.

(Der Rote Elefant 30, 2012)