Chile, Anfang des 20. Jahrhunderts: Der ca. 8-jährige Neftalí geht mit staunenden Augen durch die Welt. Er erlebt die Wunder des Waldes, das Rauschen des Windes, den Duft des Regens. Ein Träumer sei er, meint der strenge Vater, deshalb auch klein und schwächlich. Doch liegt es in Neftalís Wesen, Dingen auf den Grund zu gehen, ihre Widersprüche und Geheimnisse zu ergründen. Kleine, unscheinbare Dinge erregen seine Aufmerksamkeit, er sammelt sie, bewahrt sie auf: einen alten Stiefel, eine Feder, einen Tannenzapfen. Allesamt Schätze, die eine Geschichte haben, die sich ihm vielleicht offenbaren wird. Der Junge liebt die Sprache, die Poesie, das Lesen, sammelt Wörter auf Zetteln … Er genießt die heitere familiäre Atmosphäre, wenn der Vater auf Reisen ist. Und leidet unter dessen Verboten umso mehr, ist dieser wieder daheim. Neftalí beobachtet die Menschen, verfolgt gespannt die Diskussionsrunden im Haus des Vaters. Mit zunehmendem Alter wachsen Neftalís Gerechtigkeitsempfinden und der Mut, für die eigene Meinung einzustehen. Der bewunderte Onkel, ein Zeitungsmacher, hinterfragt – nicht ohne Folgen – gesellschaftliche Verhältnisse, wie z. B. die Ausbeutung der indigenen Mapuche. Irgendwann beginnt Neftalí für dessen Zeitung zu schreiben – mit Erfolg, doch unter Pseudonym. Es dauert noch Jahre, bis Neftalí sich dem despotischen Vater endgültig widersetzt, seinen eigenen Weg geht. Bis er als bedeutender und kämpferischer Poet weltberühmt wird – Pablo Neruda.

Pam Muñoz Ryan hat prägende Kindheitserlebnisse Nerudas wie den ersten Besuch im Regenwald in ihre sinnliche Biografie für Kinder gewoben. Angeregt durch Nerudas „Buch der Fragen“ steht an jedem Kapitelende eine solche („Welche Weisheiten flüstert der Adler denen zu, die gerade fliegen lernen?“). Erzählt wird ganz nah an Neftalí, an seiner Erlebniswelt. Dem Leser bleibt Raum und Zeit zum Nachdenken, für sensitives Nachempfinden. Das Erzähltempo beschleunigt sich in dem Moment, als Neftalí erstmals offen aufbegehrt. Den 12 Kapiteln („Ozean“, „Liebe“, „Feuer“ …) sind je drei filigrane Illustrationen von Peter Sís vorangestellt, Aspekte des Erzählten zeigend und möglicher assoziativer Einstieg für Veranstaltungen mit Kindern. Überhaupt ließ sich Sís bei seinen phantasievollen, pointilistischen Tuschezeichnungen von Nerudas Poesie beflügeln. Dessen Lieblingsfarbe Grün (die Farbe der esperanza, der Hoffnung) prägt die Gestaltung in Bild und Text des auch typografisch äußerst sorgfältig gestalteten, schönen Buches. Im Anhang finden sich biografische Informationen und ausgewählte Neruda-Texte. Ein wunderbar leises Buch über die inneren Kräfte eines sensiblen Kindes. Und ein Einblick in das Wachsen eines außergewöhnlichen Menschen.

(Der Rote Elefant 32, 2014)