Cover: Annette Herzog Pssst!

Bereits das Cover lässt ahnen, dass es sich um ein ungewöhnliches Buch handelt. Der scheinbar handschriftlich auf kariertes Papier geschriebene, lautmalerische Titel wirkt rätselhaft: Soll hier etwas geheim gehalten werden oder gilt es Geheimnisse zu ergründen? Illustrativ umgibt den ‚zentralen‘ Zettel auf der Cover- sowie die ebenfalls vermeintlich aus Schulheften herausgerissenen Text-Seiten auf dem Rückendeckel ein Gewirr aus kleinen Zeichnungen: Fotos, Briefmarken, Aufkleber, ausgeschnittene Bildchen, beschriebene oder beklebte Zettel und Gegenstände wie eine Haarlocke, ein Perlenarmband, eine Büroklammer, eine Wimpelkette. Vor allen Utensilien sitzt ein den Betrachter nachdenklich anblickendes Mädchen, das – wie aus einem Kokon – aus einem Mumienschlafsack herauswill und dies schon halb geschafft hat. Was der Einband verspricht, hält die Graphic Novel im Ganzen: inhaltlich als dialektisches Spiel im Preisgeben und Entdecken von Geheimnissen, stilistisch durch eine untrennbare Einheit, ja Interaktion von Text und Bild.

Protagonistin ist die heranwachsende Viola, auf der Suche nach der eigenen Identität und Sinnhaftigkeit ihres Lebens. In zwölf Kapiteln, die Etappen ihres bisherigen Daseins spiegeln, offenbart sie Bezugspersonen, prägende Erlebnisse, Vorlieben, Fähigkeiten … – und geht damit den – naiven bis reiferen – Fragen nach, die sie je Lebensabschnitt beweg(t)en: beim nahen Tod des Opas, was (sie) vor der Geburt gewesen sein könnte; im Hinblick auf ihre Patchwork-Familie, wieso andere besser über sie Bescheid wissen (wollen) als sie selbst; innerhalb des späteren Freundinnenkreises, ob man stets „gleichzeitig nett und beliebt“ sein kann; mit Blick auf die „ganze Welt‘, ob sie unter anderen Lebensumständen „immer noch ich“ wäre. Es sind ganz verschiedene Textsorten (Bildunterschriften und Comicblasen, bericht- und sachbuchartige Passagen, Listen, SMS und Chats), anhand derer Viola erzählt und philosophiert. Sie tut dies rückblickend-augenzwinkernd, vor allem aber durchweg eingebunden bzw. in Korrespondenz zu Bildgeschichten und -collagen, die wie von ihr selbst gezeichnet und gestaltet wirken, wobei manche Seiten ganz ohne Text in ihre Außen- und Innenwelt eintauchen lassen.

Das in Text und Bild verwendete Leitmotiv „Zitronenfalter“ spielt auch auf Künftiges an und eignet sich hervorragend, Rezeption entweder anzuregen oder zu vertiefen. Der Eindruck, es handle sich um ein Buch ‚nur‘ für Mädchen, ließe sich schnell entkräften. Oder könnte es ein ‚Pendant‘ mit einem Jungen als Protagonist geben?

(Der Rote Elefant 35, 2017)