Cover: Ann M. Martin, Die wahre Geschichte von Regen und Sturm
Die wahre Geschichte von Regen und Sturm
Aus dem Englischen von Gabriele Haefs
238 Seiten
ab 11 Jahren
€ 14,99

Da der Vater „Regen“ im Regen fand, nennt Tochter Ruth, eine Autistin, den Hund sofort „Regen“. Aber nicht nur deshalb. Das Wort ist ein Homophon (vgl. „sich regen“). Ruth liebt Homophone, nicht zu verwechseln mit Homonymen: Da gibt es feste Regeln. Und Ruth liebt Regeln. Seit sie die Schulbusfahrerin permanent auf Verstöße anderer Verkehrsteilnehmer hinwies, so dass diese völlig entnervt selbst Fehler beging, was Ruth lauthals kritisierte, fährt sie der Onkel zur Schule. Außer Homophonen und Regeln liebt Ruth Primzahlen – und „Regen“. Eines Tages ist der Hund weg, weil ihn der Vater während eines Hurrikans aus dem Haus ließ. Ruth ist empört und beschimpft den Vater unausgesetzt. Mit Hilfe des Onkels entwickelt sie jedoch eine Strategie, die „Regens“ Aufenthalt ermittelt. Wie sich herausstellt, gehört Regen aber schon einer anderen Familie. Ihn zu behalten, verstieße gegen alle Regeln!

Eindimensionalität und gestörtes Sozialverhalten bestimmen Denken und Kommunikation von Autisten. Eine Herausforderung für die Mitmenschen. So auch hier. Der Vater, ein einfacher Mann, der in wechselnden Pflegefamilien aufwuchs, will alles richtig machen. Aber gerade arbeitslos geworden und die Hurrikan-Schäden reparierend, verkraftet er nicht noch, dass Ruth den Beweis seiner Liebe, „Regen“, einfach weggibt. Nach einem Gewaltausbruch überantwortet er sie selbstkritisch dem Onkel. Für Ruth kein Problem, da sich der Onkel viel mehr für ihre Homophon-Listen und Primzahl-Wörter-Vergleiche interessiert …

Ruths Erzählweise ist von eigenwilliger Komik. Da durch ihre Homophon-Manie ständig Wortbedeutungen umkreist werden, lernen Leser wie nebenher einen bewussten Umgang mit Sprache kennen, aber auch fremde soziale Verhaltensmuster, die veränderbar sind. Denn: Auch Autisten können soziales Verhalten und Empathie „lernen“, wenn sie kenntnisreiche, geduldige Unterstützung erfahren.

Die Autorin lässt Ruth ihre Geschichte als „Sachprosa“ klassifizieren, was dem eigenen Anliegen entspricht. In Ruths pure Weltbetrachtung und den Wiederholungszwang flossen auf nachvollziehbare Weise Erfahrungen der Autorin und Gespräche mit Fachleuten in einem New Yorker Zentrum für Kinder aus dem Autismus-Spektrum ein. Ruths Unbedingtheit nervt z. T. auch den Leser, nimmt aber insgesamt für sie ein, so dass eine Art distanzierter Empathie gefördert wird, die allgemein zum Verständnis für Anderssein beiträgt und zu Menschenkenntnis überhaupt.

(Der Rote Elefant 33, 2015)