Cover: Susan Kreller; Elefanten sieht man nicht

Seit die Mutter im Garten der Großeltern verunglückte und der Vater den Unfallort meidet, muss die 13jährige Mascha die Sommerferien allein hier verbringen. In der Kleinstadtsiedlung, deren Bewohner vermeintlichen Gemeinschaftssinn wie ihren Vorgarten pflegen, findet das Mädchen keinen Anschluss. Doch dann lernt es die 9jährige Julia und deren 7-jährigen Bruder Max kennen. Schon bald bemerkt Mascha, dass die Geschwister vom Vater, einem angesehenen Autohaus-Besitzer, schwer misshandelt werden. Sie versucht, Großeltern und Polizei ihre Beobachtungen mitzuteilen: vergeblich.

Aus einem Gespräch über „Weglaufen“ entwickelt sich ein Spiel, aus dem plötzlich Ernst wird. Die Kinder landen im hölzernen „blauen Haus“ inmitten eines flirrend heißen Gerstenfeldes. „Und auf einmal kam mir der Gedanke, dass man Menschen beschützen kann. … Ich schloss die Tür. Drehte den Schlüssel zweimal herum. Und dann rannte ich.“

Maschas spontane ‚Rettungsaktion‘ fliegt schnell auf. Ignoranz oder Lethargie der meisten Erwachsenen schlagen um in Hass und Häme. Nur der bislang wortkarge Großvater bricht sein Schweigen und begleitet Mascha zur Polizei.

Im Jahre 2000 wurde gewaltfreie Erziehung hierzulande zum Gesetz erhoben. Studien und veröffentlichte Fälle belegen jedoch, dass Gewalt gegen Kinder nach wie vor in allen sozialen Schichten vorkommt. Eine hohe Dunkelziffer wird vermutet. Das Romandebüt der Autorin widmet sich somit einem brisanten Thema und gestaltet es auf selten direkte, altersgerechte, aber auch literarisch eindrucksvolle Weise. Als einzige Figur entwickelt Krellers selbst emotional vernachlässigte Ich-Erzählerin vorbildhaft Empathie und Verantwortung. Maschas beinahe schnorkellose Reflexionen schwanken zwischen kindlicher Naivität und beginnender Reife. Ihre Unbedingtheit im Handeln jedoch ist ausgesprochen jugendtypisch. Neben der Protagonistin beindruckt besonders die Figurenzeichnung der Geschwister. Das Ausmaß von deren körperlichen Verwundungen, psychischen Defiziten und „Verarbeitungsstrategien“ wird eher unterschwellig deutlich, etwa durch kurze Andeutungen in fast lapidaren Dialogen. Auf der Beziehungsebene zwischen Mascha und dem depressiven Vater sowie Mascha und Julia spielen Lieder von Leonard Cohen eine gleichnishafte Rolle. Dramaturgisch klug durchzieht den Text eine sowohl äußere wie innere Spannung. Dazu tragen nicht zuletzt poetische Stilmittel bei. So spielt der Buchtitel auf die englische Redewendung „the elephant in the room“ an und auf eine Legende, die innerhalb des Plots erklärt und enträtselt wird. Beim Einstieg in eine Vermittlung des Buches könnte man gemeinsam darüber nachdenken, wieso man Elefanten nicht sehen kann (Buchtitel), wenn sie doch im Raum sind (Redewendung).

(Der Rote Elefant 31, 2013)