Cover: Patricia McCormick, Der Tiger in meinem Herzen

Würde das Buch verfilmt und im deutschen Fernsehen gezeigt, stünde im Vorspann: „Der Film zeigt Szenen, die für die Augen und Ohren von Jugendlichen nicht geeignet sind.“

Gemeint wären damit Sterben und Töten, also Szenen, die auch im Buch wiederholt vorkommen. Die Autorin hat über zwei Jahre Interviews mit dem Kambodschaner Arn Chorn Pond geführt, einem Überlebenden der Massaker der Roten Khmer. Als 11-jähriger wurde dieser zum Arbeitssklaven und später zum Kindersoldaten gemacht. Aus der Stadt Battambang in ein Kinderlager verschleppt, muss er mit den anderen Jugendlichen, ständig unterernährt, auf den Reisfeldern arbeiten. Er beobachtet das System von Unterdrückung, Denunziation und Demoralisierung, wird Mitwisser und Täter. Dabei fragt er sich oft, warum er überlebt, während alle anderen um ihn herum sterben. Nach vier Jahren gelingt ihm die Flucht nach Thailand. Dort lebt er zeitweise wiederum in einem Lager, bis ein US-Amerikaner ihn und zwei weitere Jungen in die Vereinigten Staaten mitnimmt.

Im Rahmen von Kirchenversammlungen sagt Arn Chorn-Pond den auswendig gelernten Satz auf: „Ich bin glücklich, hier zu sein, in Amerika.“ Als Erwachsener arbeitet er mit amnesty international und den Children of War zusammen und gründet die Organisation Cambodia Living Arts, die kulturelle Projekte in der Heimat unterstützt. McCormick hat aus den Interviews eine authentisch wirkende Ich-Erzählung geformt, worin nicht nur die Entbehrungen und Misshandlungen in der Zeit der Gefangenschaft einschließlich der Methoden der Gehirnwäsche geschildert werden, sondern auch die aggressiven und selbstzerstörerischen Phasen danach: Folgen der Traumatisierung. Der Protagonist empfindet diese Phasen so, als erwache in ihm „ein Tiger“.

Was das Buch aufgrund der gewählten Perspektive nicht leisten kann, ist die eigentlich notwendige Einordnung in die Entkolonialisierungskämpfe auf dem Gebiet des früheren Indochina. Ebenso bleibt unerwähnt, dass die USA, als Land der Rettung, fast gleichzeitig einen Vernichtungskrieg gegen Nordvietnam führten und das mit Mitteln, die nur als Kriegsverbrechen zu bezeichnen sind. Beide Themen müssten ergänzend vermittelt werden, um den Völkermord in Kambodscha nicht als isoliertes Phänomen, sondern historisch eingebettet zu sehen. Bei einer Buchempfehlung bzw. beim wünschenswerten Einsatz im Geographie- oder Politikunterricht sollte dieser Zusammenhang unbedingt hergestellt werden.

(Der Rote Elefant 33, 2015)