Cover: Hanna Jansen; Zeit der Krabben

Auf offener See begegnen sich zwei Boote, geheimnisvolle Pakete wechseln die Besitzer. In der gleichen Nacht hört Cynthia wieder das Rascheln, Kratzen und Krabbeln, das sie schon kennt. Die Krabben sind unterwegs. Sie kommen aus den Vulkanfelsen und den Mangrovenwäldern und wollen zum Meer, wo sie Hochzeit feiern und ihre Eier ablegen werden. Am nächsten Morgen landen einige von ihnen in der Küche des kleinen Restaurants, das Cynthias Mutter betreibt. Die Geschichte spielt auf einer Karibikinsel und wird überwiegend von der 17jährigen Ich-Erzählerin wiedergegeben. Einige Sequenzen, die außerhalb ihrer Wahrnehmung stattfinden, haben einen objektiven Erzähler. Es geht vornehmlich um Alltag: die Versorgung der Gäste, zu denen italienische und amerikanische Touristen zählen, die Beziehungen zu den Nachbarn, Kirchgang, Diskothek-Besuche, manchmal auch Inselpolitik. Doch zunehmend werden die Spannungen zwischen den Familienmitgliedern und Freunden deutlich: Cynthias Vater verschwindet und ist wahrscheinlich in dunkle Geschäfte verwickelt, auf das Restaurant wird ein Brandanschlag verübt und US-Hubschrauber jagen über dem Meer Drogenhändler.

Eindrucksvoll wird das Hier und Jetzt einer ehemaligen Sklaven- und Pirateninsel mit genauen Milieu-beobachtungen geschildert. Dazu gehören die Nahrungsmittel, die auf den Tisch kommen, das Tauchen in die wundersame Welt der Korallenriffe und der Voodoo-Priester (hier Obeah-Man genannt), der den Ausgang des Pferderennens beeinflussen soll, aber auch der Kampf ums ökonomische Überleben, die Kriminalität und der brutale Umgang mit Außenseitern. Während die Touristen die tropische Idylle genießen, kämpfen die Inselbewohner um ihre Existenz und einen Rest von menschlicher Würde.

Die Romanfigur Cynthia lebt in Widersprüchen. Einerseits ist die Insel ihr Zuhause, die Mutter und die kleine Schwester brauchen ihre Hilfe, andererseits weiß sie, dass sie dort nicht bleiben kann. Ihre Kontakte zu den Gästen aus Italien und den USA und ihr High-School-Abschluss bestärken sie darin, nicht nur Verantwortung für andere, sondern auch für sich selbst zu übernehmen. Cynthia sucht nach einem Fluchtweg, weg von der Insel.

Die Autorin bedankt sich im Nachwort bei ihrer Gewährsfrau Gretha, die inzwischen in Ghana lebt, früher ein wichtiger Herkunftsort der Sklaven, die in der Karibik verkauft wurden. Die Tatsache der Krabbenwanderung kann man im www in einem Film über die kolumbianische Insel Providencia überprüfen. Für das Buch gewinnt sie eine symbolische Bedeutung: überzeitliche Gesetze der Natur umrahmen die menschlichen Verwirrungen.

(Der Rote Elefant 32, 2014)