Cover: Hélène Lasserre, Tolle Nachbarn

Es ist Nacht. Durch eine gutbürgerliche Straße, bewohnt von (klein)bürgerlichen Schafen, patroulliert von links nach rechts ein Polizist. Ihm entgegen kommt ein Radler. Straßenlaterne, wenige Fenster und die Fahrradlampe setzen Leuchtflächen ins monochrome Dunkel. „Alles … viel zu ruhig“, langweilt sich ein waches Brillenschaf. Doch noch ist nicht aller Tage Abend. Mit dem Zuzug anderer Tierarten und dem Auszug genervter Schafe belebt sich das Viertel: das Haus wird begrünt, eine Mauer beseitigt, der Hof als Sport-, Spiel- und Anbaufläche gestaltet, eine Wohnung zum Aquarium umfunktioniert, das Dach für Strauße und Störche geöffnet. „Es ist Frühling. Die richtige Jahreszeit für Umbauarbeiten“ kommentiert das Ich-Erzähler-Schaf lapidar. Eine Untertreibung, aber gerade aus der Differenz zwischen knapp-sachlichem Kommentar und anarchisch-sichtbarer Veränderungsfülle innerhalb der doppelseitigen Federzeichnungen bezieht das Buch Komik und Spannung. Die Stimmung des Erzählers hellt sich zunehmend auf. Von Langeweile keine Spur mehr. Auf der letzten Doppelseite fordert der inzwischen stolze Vater zum Betrachten eines Feuerwerks auf. Der rückkehrende Radler blickt zwar – wie auf Seite 1 – stoisch geradeaus, aber dem angesprochenen Betrachter offenbart sich angesichts eines stimmungsmäßig überbordenden Hausfestes die Freude der Anwohner ob ihres jetzigen Lebensraumes. Ein graues, quadratisch-praktisches Haus wandelte sich zum farbenfrohen phantastisch-turbulenten Heim für verschiedenste Bedürfnisse. Am Ende werden nur noch Wimmelbilder der Heterogenität der kreativen „tollen Nachbarn“ gerecht. 

Statisch wäre das Haus gefährdet, aber das interessiert die Bilderbuchmacher wenig. Sie plädieren für eine Architektur, die Häuser für Bewohner konzipiert, wobei auch interkulturelle Lebensformen zu berücksichtigen sind. Ist Bestehendes unbefriedigend, muss es verändert werden, notfalls ist Selbsthilfe gefragt. Nicht zufällig verliert der Polizist ab der 2. Doppelseite die Insignien seiner Macht, erst Mütze, dann Uniformhose usw. Neben diesem Handlungsstrang laufen weitere Bildgeschichten parallel ab, die verfolgt und erzählt werden können.

Da Kinder anarchische Aktionen lieben, spiegelt sich die angemahnte Toleranz auch im Spiel- und Beziehungsverhalten der multikulturellen Tierkindergruppe(n). Ebenfalls eine schöne Beobachtungs- und Erzählaufgabe! Vielleicht finden kindliche Betrachter heraus, warum der Ich-Erzähler auf dem Cover aus einem anderen Haus blickt als auf der 1. Doppelseite?

(Der Rote Elefant 35, 2017)

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